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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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warteten – so wie er –, alt genug zu sein, um Soldat zu werden. Im September würde er alt genug sein.
    Falls Russell Craik vorgehabt hätte, mich in der üblichen Art auszuführen, mit mir ins Kino oder tanzen zu gehen, hätte keinerlei Aussicht auf Erlaubnis dazu bestanden. Meine Mutter hätte verkündet, ich sei zu jung. Wahrscheinlich hätte sie es nicht notwendig gefunden, zu sagen, dass er als Stalljunge arbeitete und dass sein Vater die Kohlen brachte und dass seine Familie die Heilsarmeeuniform anzog und regelmäßig auf der Straße Zeugnis ablegte. Diese Umstände hätten auch mir etwas bedeutet, wenn es dazu gekommen wäre, ihn öffentlich als meinen Freund vorzustellen. Zumindest hätten sie etwas bedeutet, solange er nicht Soldat und dadurch vorzeigbar war. Aber über all das brauchte ich gar nicht nachzudenken, denn Russell konnte mich nicht ins Kino oder in eine Tanzdiele ausführen, weil sein Glaube ihm gebot, solche Orte zu meiden. Die Gewohnheiten, die sich zwischen uns einstellten, kamen mir einfach, fast natürlich vor, denn sie passten in vieler Hinsicht – nicht in jeder – zu der lockeren, kaum anerkannten und vorübergehenden Art und Weise, in der sich Jungen und Mädchen meines Alters, nicht seines Alters, zusammentaten.
    Zum einen fuhren wir Fahrrad. Russell hatte kein Auto und auch keinen Zugang zu einem, obwohl er fahren konnte – er fuhr den Trecker auf dem Pferdehof. Er holte mich nie zu Hause ab, und ich schlug es auch nie vor. Wir fuhren am Sonntagnachmittag auf getrennten Wegen aus der Stadt hinaus und trafen uns immer am selben Ort, einer Schule an einer Straßenkreuzung zwei oder drei Meilen außerhalb der Stadt. Alle Schulen auf dem Lande hatten Spitznamen, und niemand nannte sie bei den offiziellen Bezeichnungen, die über ihren Türen standen. Nie S. S. Nummer 11 oder S. S. Nummer 5 , sondern Lammschule und Brauereischule und Ziegelschule und Steinschule. Die Schule, die wir uns aussuchten und die ich schon kannte, hieß die Schule vom sprudelnden Brunnen. Ein dünner Wasserstrahl floss ständig aus einem Rohr in einer Ecke des Schulhofes, um diesen Namen zu rechtfertigen.
    Um diesen Hof herum, auf dem der Rasen sogar in den Sommerferien gemäht wurde, standen alte Ahornbäume, die fast schwarze Schatten warfen. In einer Ecke war ein Steinhaufen, aus dem langes Gras wuchs, da versteckten wir unsere Fahrräder.
    Die Straße vor dem Schulhof war eben und geschottert, aber die Nebenstraße, die einen Hügel hinaufführte, war nichts weiter als ein Feldweg. Auf der einen Seite lag eine Viehweide mit Weißdorn- und Wacholderbäumen, auf der anderen ein Hain aus Eichen und Fichten und eine Grube zur Straße hin. Diese Grube war eine Müllkippe – keine von der Stadt genehmigte, sondern eine von den Leuten aus der Umgegend angelegte. Die interessierte Russell, und jedes Mal, wenn wir daran vorbeikamen, mussten wir uns vorbeugen und in die Grube spähen, um zu sehen, ob etwas Neues darin lag. Was nie der Fall war, wahrscheinlich wurde die Müllkippe seit Jahren nicht mehr benutzt – aber häufig entdeckte er etwas, das ihm bisher noch nicht aufgefallen war.
    »Siehst du das? Das ist der Kühlergrill von einem V- 8 .«
    »Siehst du das unter dem Wagenrad? Das ist ein altes Batterieradio.«
    Ich war schon ein paar Mal allein auf diesem Weg gewesen und hatte die Müllkippe nicht einmal bemerkt, aber dafür wusste ich von anderen Dingen. Ich wusste, wenn wir über den Hügel kamen, dann wurden die Eichen und Föhren von Rottannen und Lärchen und Zedern verschluckt, ebenso die buckligen Wiesen, und alles, was wir lange Zeit sehen konnten, das waren auf beiden Seiten nur Sumpfpflanzen, mit vereinzelten hohen Kranbeersträuchern, an die niemand je herankam, und einigen zierlich aussehenden, scharlachroten Blumen, deren Name ich nicht genau wusste – ich glaubte, sie hießen Teufelstuschpinsel. An den Zweig einer Zeder hatte jemand den Schädel eines kleinen Tieres gehängt, und der fiel Russell auf, jedes Mal überlegte er, ob er von einem Frettchen oder einem Wiesel oder einem Nerz stammte.
    Er war jedenfalls ein Beweis dafür, dass jemand vor uns auf diesem Weg gewesen war, vermutlich zu Fuß, nicht im Auto – die Zedern standen zu dicht beieinander, und die Bohlenbrücke über den Bach an der tiefsten Stelle des Sumpfes war eine primitive Angelegenheit – sie schwankte unter unseren Füßen und hatte kein Geländer. Dahinter stieg das Gelände langsam an, der Boden

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