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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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wache nie auf, aber es weckt Jackie und macht ihn wütend. Er gibt mir einen Tritt, und ich drehe mich im Schlaf um, und dann ist es gut. Weil ich nur knirsche, wenn ich auf dem Rücken liege.«
    »Würdest du mich treten?«, fragte er, streckte den Arm über das Stück sonnendurchflutete Luft zwischen uns hinweg und ergriff meine Hand. Er sagte, im Bett werde ihm so heiß, dass er alle Decken abstreife, und auch das mache Jackie wütend.
    Ich wollte ihn fragen, ob er nur die Schlafanzugjacke oder nur die Hose oder beides trug oder gar nichts, aber beim Gedanken an die letzte Möglichkeit wurde mir so schwach, dass ich den Mund nicht aufbekam. Unsere Finger kneteten sich völlig selbständig, bis sie so schweißig wurden, dass sie aufgaben und sich trennten.
    Erst wenn wir wieder bei dem Schulhof ankamen und fast schon unsere Fahrräder nehmen wollten, um – getrennt – in die Stadt zurückzufahren, erhielt der Grund für unseren Spaziergang, der einzige Grund, so weit ich zu erkennen vermochte, unsere ganze Aufmerksamkeit. Er zog mich in den Schatten, legte die Arme um mich und fing an, mich zu küssen. An einer Stelle, die von der Straße aus nicht zu sehen war, drückte er mich an einen Baumstamm, wir küssten uns, anfangs scheu, dann feuriger, verklammerten uns – immer noch im Stehen – mit zittriger Heftigkeit. Und nach – wie vielen? – fünf oder zehn Minuten davon trennten wir uns, nahmen unsere Fahrräder und verabschiedeten uns. Meine Lippen waren fast wund, meine Wangen und mein Kinn waren zerkratzt von Bartstoppeln, die auf seinem Gesicht noch nicht zu sehen waren. Hinten tat mir der Rücken weh von dem harten Baumstamm, und vorn schmerzte mein Körper vom Druck des seinen. Mein Bauch, eigentlich ganz flach, war ein bisschen eingedrückt, aber mir war aufgefallen, dass es bei ihm nicht so war. Ich dachte, dass die Bäuche von Männern fester und sogar nach vorn gewölbt sein mussten, was erst zu spüren war, wenn man eng an sie gedrückt wurde.
    Es kommt mir bei all dem, was ich damals wusste, seltsam vor, dass mir nicht klar war, was es mit diesem Druck auf sich hatte. Meine Vorstellung vom Körper eines Mannes war mehr oder weniger zutreffend, aber aus irgendeinem Grunde war mir unbekannt, dass es diese Veränderung der Größe und des Zustandes gab. Offenbar glaubte ich, dass ein Penis ständig die maximale Größe und seine klassische Form hatte, aber trotzdem in einem Hosenbein herunterhängen konnte, nicht aufgerichtet war, um so auf einen anderen Körper Druck auszuüben. Ich hatte viele Witze gehört und Tiere bei der Paarung gesehen, aber wenn Wissen unsystematisch erworben wird, können sich Lücken ergeben.
     
    Hin und wieder sprach er von Gott. Sein Ton war dabei fest und sachlich, als sei Gott ein höherer Beamter, gelegentlich gnädig, aber oft unbeugsam und ungeduldig, auf männliche Weise. Wenn der Krieg zu Ende und er aus der Armee entlassen war (»Wenn ich nicht falle«, sagte er fröhlich), dann würden immer noch Gottes Gebote und
seine
Armee das Leben bestimmen.
    »Ich werde das tun müssen, was Gott von mir verlangt.«
    Das gab mir zu denken. Welch einen schrecklichen Gehorsam es erforderte, um so gläubig zu sein.
    Oder – wenn man den Krieg und die richtige Armee bedachte – um einfach ein Mann zu sein.
    Der Gedanke an seine Zukunft mag ihm gekommen sein, weil wir auf dem Stamm einer Buche – deren graue Rinde ideal für Botschaften ist – ein eingeschnitztes Gesicht und ein Datum entdeckt hatten. Das Jahr war 1909 . In der Zwischenzeit war der Baum gewachsen, sein Stamm dicker geworden, sodass die Umrisse des Gesichts sich an den Seiten verbreitert hatten zu Flecken, breiter als das Gesicht selbst. Der Rest des Datums hatte sich verwachsen, und die Jahreszahl mochte auch bald unleserlich werden.
    »Das war vor dem Ersten Weltkrieg«, sagte ich. »Wer das auch eingeschnitzt hat, er kann lange tot sein. Er kann in dem Krieg damals gefallen sein.«
    »Oder er kann sowieso inzwischen gestorben sein«, fügte ich hastig hinzu.
    An jenem Tag, glaube ich, wurde uns auf dem Rückweg so heiß, dass wir Schuhe und Strümpfe auszogen und uns von den Bohlen in das kniehohe Wasser des Baches hinunterließen. Wir bespritzten uns Arme und Gesicht.
    »Weißt du noch, wie ich erwischt wurde, als ich unter dem Apfelbaum hervorkam?«, fragte ich zu meiner eigenen Überraschung.
    »Ja.«
    »Ich hab ihr gesagt, ich hätte mein Armband gesucht, aber das stimmte nicht. Ich bin aus

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