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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Ebene. Das Scheunentor im Obergeschoss, das zur Straße hin lag, war mit zwei sich aufbäumenden weißen Pferden bemalt. Eine Auffahrt aus Erde und Steinen führte zu diesem Tor – so wurden die Heuladungen hineingefahren. In einem dieser beiden Torflügel befand sich eine Tür von normaler Größe, genau eingepasst, so dass sie kaum zu sehen war, mit dem Huf und einem Teil der Hinterbeine eines der gemalten Pferde darauf. Sie war abgeschlossen, aber Russell hatte den Schlüssel.
    Er zog mich hinter sich hinein. Und sobald er die Tür hinter uns zugemacht hatte, umfing uns anfangs pechschwarze Dunkelheit. Ebenso, nahezu erstickend, der Geruch des frischen Heus vom Sommer. Russell führte mich so sicher bei der Hand, als könnte er sehen. Seine Hand war heißer als meine.
    Nach einem Weilchen konnte auch ich etwas sehen. Heuballen, aufeinandergestapelt wie riesige Ziegelsteine. Wir waren in einer Art Dachboden, über dem Stall. Jetzt nahm ich nicht nur den Duft des Heus, sondern auch starken Pferdegeruch wahr und hörte aus den Boxen beständiges Kauen, Schurren und Rumpeln. Zu dieser Jahreszeit blieben die meisten Pferde die ganze Nacht lang auf der Weide, aber diese hier waren offenbar zu wertvoll, um in der Dunkelheit draußen zu bleiben.
    Russell legte meine Hand auf die Sprossen einer Leiter, die zu den obersten Heuballen führte.
    »Soll ich erst oder willst du?«, flüsterte er.
    Warum flüstern? Um die Pferde nicht aufzuschrecken? Oder ist es einfach nur natürlich, im Dunkeln zu flüstern? Oder wenn die Beine versagen, aber ein anderer Teil des Körpers vor Verlangen schmerzt.
    Da geschah etwas. Einen Augenblick lang hielt ich es für eine Explosion. Einen Blitzschlag. Oder sogar ein Erdbeben. Mir kam es vor, als erschütterte alles, während helles Licht aufleuchtete. Natürlich hatte ich noch nie auch nur von Ferne einer Explosion beigewohnt oder einen Blitz einschlagen sehen, geschweige denn die Ausläufer eines Erdbebens gespürt. Ich hatte Gewehrschüsse gehört, aber immer im Freien und weit fort. Ich hatte noch nie den Knall einer Schrotflinte im Innern eines Gebäudes unter einem hohen Dach gehört.
    Das war es, was ich gerade gehört hatte. Miriam McAlpin hatte ihre Flinte abgefeuert, hoch in den Heuboden, und dann sofort alle Lampen angeschaltet. Die Pferde scheuten, wieherten, warfen sich hin und her und traten mit den Hufen gegen die Wände ihrer Boxen, trotzdem hörte ich Miriams Geschrei.
    »Ich weiß, dass ihr hier seid. Ich weiß, dass ihr hier seid.«
    »Geh nach Hause«, zischte mir Russell ins Ohr. Er packte mich und drehte mich zur Tür um.
    »Geh nach Hause«, sagte er, wütend oder zumindest mit einer Dringlichkeit, die der Wut gleichkam. Als wäre ich ein Hund, der ihm gefolgt war, oder eine seiner Schwestern, und hätte kein Recht, da zu sein.
    Vielleicht sagte er auch das im Flüsterton, vielleicht nicht. Bei dem Krach, den die Pferde und Miriam zusammen veranstalteten, hätte es nichts ausgemacht. Er gab mir einen starken und gar nicht zärtlichen Stoß, dann drehte er sich zum Stall um und rief: »Nicht schießen, ich bin’s … He, Miriam. Ich bin’s.«
    »Ich weiß, dass ihr hier seid …«
    »Ich bin’s. Russ.« Er war zum Rand des Heubodens gerannt.
    »Wer ist da oben? Russ? Bist du das?
Russ

    Es muss eine Leiter zum Stall hinunter gegeben haben. Ich hörte Russells Stimme absteigen. Er klang dreist, aber unsicher, als halte er es für möglich, dass Miriam noch einmal schoss.
    »Ich bin’s bloß. Ich bin oben reingekommen.«
    »Ich hab jemand gehört«, sagte Miriam ungläubig.
    »Ich weiß. Das war ich. Ich bin bloß gekommen, um nach Lou zu sehen. Was ihr Bein macht.«
    »Du warst das?«
    »Ja. Hab ich dir doch gesagt.«
    Er klang jetzt beherrschter. Er war fähig, selbst eine Frage zu stellen.
    »Wie lange bist du schon hier?«
    »Bin gerade reingekommen. Ich war im Haus, und plötzlich hab ich gemerkt, im Stall stimmt was nicht.«
    »Warum hast du das Gewehr abgefeuert? Du hättest mich umbringen können.«
    »Ich wollte denen hier drin einen Schreck einjagen.«
    »Warum hast du nicht gewartet? Warum hast du nicht erst gerufen? Du hättest mich umbringen können.«
    »Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass du’s bist.«
    Dann schrie Miriam McAlpin wieder auf, als habe sie gerade einen neuen Eindringling erspäht.
    »Ich hätte dich umbringen können. Ach, Russ. Ich hab überhaupt nicht nachgedacht. Ich hätte dich erschießen können.«
    »Ist ja gut.

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