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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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zu gebrauchen – sie sagte in rauhem Flüsterton zu Russell: »Reich ihr die Tomaten«, aber das schien eher auf außerordentlicher Schüchternheit zu beruhen als auf Abneigung. Mr Craik legte weiterhin einen nicht aus der Ruhe zu bringenden Sinn für den gesellschaftlichen Anlass an den Tag, er fragte mich nach der Gesundheit meiner Mutter und nach den Arbeitszeiten meines Vaters in der Gießerei, ob ihm seine Arbeit dort gefiel und ob es anders war, als sein eigener Herr zu sein. Seine Art, mit mir zu reden, war eher die eines Lehrers oder eines Ladenbesitzers oder sogar eines Arztes oder Anwalts in der Stadt als die des Kohlenmannes. Und er schien es für selbstverständlich zu halten, dass unsere Familien gesellschaftlich gleichgestellt und gut miteinander bekannt waren. Das kam der Wahrheit sehr nahe, soweit es die gesellschaftliche Stellung betraf, und es stimmte auch, dass mein Vater mit nahezu jedem gut bekannt war. Trotzdem war mir dabei unbehaglich, fast schämte ich mich ein wenig, denn ich täuschte diese Familie und meine eigene, ich saß unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen an diesem Tisch.
    Aber damals kam es mir so vor, als hätten Russell und ich an jedem Familientisch unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen gesessen, denn wir mussten so tun, als hätten wir nichts im Sinn als das Essen und das Tischgespräch. Während wir in Wirklichkeit nur die Zeit absaßen, da sich unsere dringenden Bedürfnisse hier nicht erfüllen ließen und wir nur daran dachten, uns gegenseitig an die Haut zu gelangen.
    Es kam mir nie in den Sinn, dass ein junges Paar in unserer Situation in der Tat an diesen Tisch gehörte, dass wir ins erste Stadium eines Lebens eingedrungen waren, das uns bald genug zu Vater und Mutter machen würde. Russells Eltern wussten das wahrscheinlich und mögen insgeheim bestürzt gewesen sein, mögen noch gewisse Hoffnungen gehegt oder resigniert haben. Russell hatte bereits eine Machtstellung in der Familie, gegen die nicht mehr anzukommen war. Und Russell wusste das, falls er in jenem Augenblick fähig war, so weit vorauszudenken. Er sah mich kaum an, aber wenn er es tat, dann mit festem Blick, mit Besitzanspruch, und der traf mich und hallte in mir wider, als sei ich eine Trommel.
    Es war schon Spätsommer und dunkelte früh. In der Küche wurde das Licht angemacht, als wir abwuschen. Die Abwaschschüssel wurde auf den Tisch gestellt, das Wasser war auf dem Herd heiß gemacht worden, und genauso wurde es bei uns gemacht, wenn ich zu Hause abwusch. Die Mutter spülte das Geschirr, die Schwestern und ich trockneten ab. Möglicherweise erleichtert, weil die Mahlzeit vorüber war und ich bald nach Hause gehen würde, äußerte Russells Mutter einige Sätze.
    »Es kommt für so ein Essen immer mehr Geschirr zusammen, als man denkt.«
    »Die Töpfe braucht ihr nicht wegzustellen, die kommen auf den Herd.«
    »Sieht so aus, als wär’s das jetzt.«
    Dieser letzte Satz klang wie ein Dankeschön, das sie nicht anders auszudrücken wusste.
    So nah bei mir und ihrer Mutter hatten Mavis und Annie nicht zu kichern gewagt. Wenn wir uns an der Schüssel zum Abtropfen in den Weg gekommen waren, hatten sie leise »Tschuldigung« gesagt.
    Russell kam herein, nachdem er seinem Vater geholfen hatte, die Zwerghühner in den Stall zu bringen. Er sagte: »Ich denke, es wird Zeit, dass ich dich nach Hause bringe«, als sei diese Begleitung nur eine weitere abendliche Pflicht und nicht unser ersehnter erster gemeinsamer Spaziergang im Dunkeln. Meinerseits stumm und schmerzlich ersehnt, wobei der Gedanke während des Abtrocknens immer stärker von mir Besitz ergriff und es sogar in ein weibliches Ritual verwandelte, das auf geheimnisvolle Weise mit dem Kommenden verknüpft war.
     
    Es war nicht so dunkel, wie ich gehofft hatte. Zu mir nach Hause mussten wir die Stadt durchqueren, von Ost nach West, und wurden bestimmt von jemandem gesehen.
    Aber das war nicht der Weg, den wir nahmen. Am Ende der kurzen Straße legte Russell mir die Hand auf den Rücken – ein rascher, gezielter Druck, der mich nicht nach Hause steuerte, sondern zu Miriam McAlpins Pferdestall.
    Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, ob uns jemand nachspionierte.
    »Was, wenn dein Bruder und deine Schwestern uns nachgekommen sind?«
    »Das trauen die sich nicht«, sagte er. »Ich würde sie umbringen.«
    Der Stall war rot angestrichen, die Farbe im Halbdunkel noch gut erkennbar. Die Türen hinten zum Stall führten auf die untere

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