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Wozu wollen Sie das wissen?

Wozu wollen Sie das wissen?

Titel: Wozu wollen Sie das wissen? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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einem anderen Grund da drin gewesen.«
    »Ist wahr?«
    Inzwischen wünschte ich, ich hätte nicht davon angefangen.
    »Ich wollte unter den großen Baum krabbeln, als er in voller Blüte stand, und ihn von unten betrachten.«
    Er lachte. »Das ist komisch«, sagte er. »Ich wollte das auch machen. Ich hab’s nie getan, aber ich hab daran gedacht.«
    Ich war überrascht und irgendwie unangenehm berührt, als ich hörte, dass wir diesen Drang teilten. Aber ich hätte es ihm doch bestimmt nicht erzählt, wenn ich nicht gehofft hätte, dass er so etwas verstehen würde?
    »Komm zu uns zum Abendessen«, sagte er.
    »Musst du nicht deine Mutter fragen, ob das geht?«
    »Der ist das egal.«
    Meiner Mutter wäre es nicht egal gewesen, wenn sie es gewusst hätte. Aber sie wusste es nicht, denn ich log und sagte, ich ginge zu meiner Freundin Clara. Jetzt, wo mein Vater um fünf Uhr in der Gießerei sein musste – sogar am Sonntag, denn er war der Nachtwächter – und meine Mutter so oft unpässlich war, blieb unser Abendessen dem Zufall überlassen. Wenn ich kochte, so waren es Dinge, die ich mochte. So zum Beispiel Brotscheiben und Käse, begossen mit Milch und gequirlten Eiern und im Herd überbacken. Oder, auch im Herd überbacken, Büchsenfleisch, bedeckt mit braunem Zucker. Oder auch eine Menge knusprig gebratener Scheiben aus rohen Kartoffeln. Wenn mein Bruder und meine Schwester sich selbst überlassen blieben, konnte ihr Abendessen aus Sardinen auf Keksen oder Erdnussbutter auf Vollkornwaffeln bestehen. Der Verfall regelmäßiger Gewohnheiten in unserem Haus machte mir das Lügen leichter.
    Vielleicht hätte meine Mutter, wenn sie es gewusst hätte, einen Weg gefunden, um mir zu sagen, sobald man bestimmte Leute als Gleichgestellter oder Freund besuchte – diese Leute mochten vollkommen rechtschaffen sein –, dann zeigte man, dass man sich selbst keinen besonders hohen Wert beimaß, und danach würde man von anderen entsprechend eingeordnet werden. Ich hätte ihr natürlich widersprochen, umso heftiger, weil ich gewusst hätte, dass es stimmte, was sie sagte, zumindest in dieser Stadt. Denn schließlich war ich diejenige, die alle möglichen Ausreden erfand, um nicht mehr mit meinen Freundinnen an der Ecke vorbeigehen zu müssen, wo Russell und seine Familie sich am Samstagabend postierten.
    Manchmal dachte ich hoffnungsfroh an die Zeit voraus, wenn Russell diese ein wenig komische dunkelblaue, rot paspelierte Uniform abgelegt und durch eine khakibraune ersetzt haben würde. Mir kam es so vor, als könnte sich dann viel mehr als nur die Uniform ändern, als könnte ein Teil seiner Persönlichkeit damit abgeschält werden und eine neue, unangreifbare zum Vorschein kommen, sobald er wie ein richtiger Soldat angezogen war.
     
    Die Craiks wohnten in einer schmalen, kurzen, diagonal verlaufenden Straße, nicht weit von den Pferdeställen. Ich hatte zuvor noch nie einen Grund gehabt, diese Straße entlangzugehen. Die Häuser standen dicht am Bürgersteig und dicht beieinander, ohne Platz für eine Auffahrt oder einen Hof dazwischen. Die Leute, die Autos besaßen, mussten sie teils auf dem Bürgersteig parken und teils auf den Grasstreifen, die als Rasenflächen dienten. Das große Holzhaus der Craiks war gelb angestrichen – Russell hatte mir gesagt, ich solle nach dem gelben Haus Ausschau halten, aber die Farbe war verwittert und blätterte ab.
    Ebenso wie die braune Farbe, die einmal unklugerweise auf die Backsteine des Hauses, in dem ich wohnte, gestrichen worden war. Was das Geld anbelangte, so waren unsere beiden Familien nicht sehr weit auseinander. Gar nicht weit.
    Zwei kleine Mädchen saßen auf der Eingangsstufe, vielleicht dorthin beordert, falls ich die Beschreibung des Hauses vergessen hatte.
    Sie sprangen jedoch ohne ein Wort auf und rannten ins Haus, als wäre ich eine Wildkatze und hinter ihnen her. Die Fliegengittertür wurde mir vor der Nase zugeschlagen, und ich schaute einen langen, kahlen Flur hinunter. Vom hinteren Teil des Hauses war gedämpftes Stimmengewirr zu vernehmen, das vielleicht damit zu tun hatte, wer gehen und mich begrüßen sollte. Und dann kam Russell selbst die Treppe herunter, die Haare noch dunkel und feucht, und ließ mich herein.
    »Also hast du hergefunden«, sagte er. Er wich zurück, damit wir uns nicht berührten.
    Mr und Mrs Craik trugen zu Hause nicht ihre Heilsarmeeuniformen. Ich weiß nicht, warum ich gedacht hatte, sie würden es tun. Der Vater, dessen

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