Wu & Durant 02 - Am Rand der Welt
schob das Geld Naldo zu, der es nahm und mit erstaunlicher Geschwindigkeit durchzählte. »Dreitausendzweihundert«, sagte er.
»Ich weiß.«
»Oh«, sagte Naldo und steckte zwei der 100-Dollar-Noten in die Tasche. »Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Ich brauche ein paar Tage lang einen Hotel-Mercedes.«
»Selbstverständlich. Möchten Sie, daß Roddy Sie wieder fährt?«
»Kein Chauffeur.«
Dies versetzte Naldo augenblicklich in Bestürzung. »Sie wollen selbst fahren? Das Hotel kann dafür keine Verantwortung übernehmen!«
»Das ist meine Sorte Verkehr hier, Bernie. Da fühl ich mich wie ein Fisch, der endlich wieder im Wasser ist.«
»Nein, tut mir leid, das können wir nicht gestatten.«
»Bernie, darf ich Sie mal was fragen? Wie viel Geld haben Durant und ich während der letzten drei oder vier Monate bei euch gelassen?«
»Sie sind beide hoch geschätzte Gäste, aber –«
»Ich möchte den Wagen morgen früh um sieben draußen stehen haben, vollgetankt und abfahrbereit.«
Naldo seufzte. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn es unser ältester Mercedes ist?«
»Nicht, solange er Räder hat.«
»Und Ihre Suite?«
»Die können Sie weiter auf die Rechnung setzen.«
»Wann dürfen wir Sie und Mr. Durant zurückerwarten – vorausgesetzt, Sie beide überleben.«
»In ein paar Tagen.«
»Sie wollen es sich nicht noch einmal überlegen und –«
»Nein«, sagte Artie Wu. »Will ich nicht.«
9
In einem gelben T-Shirt mit dem Aufdruck »People Power«, Leinenhosen und Sandalen verzehrte Artie Wu ein riesiges Frühstück vom Büfett in der Bodega des Peninsula Hotels – das durch ihn immer einen Haufen Geld verlor –, und um 7.05 Uhr schlängelte er sich bereits mit der schwarzen Mercedes-Limousine des Hotels durch den Wahnsinnsverkehr von Manila. Wie immer verließen sich die Filipino-Fahrer ausschließlich auf ihre Hupen, um ihre ungewissen Absichten zu bekunden. Artie Wu tat es ihnen Ton um Ton gleich.
Als er lange vor einer roten Ampel warten mußte, traten zwei professionelle Bettelkinder an ihn heran. Das ältere Kind war ein Mädchen von höchstens zehn, das seinen ausgemergelten vierjährigen Bruder auf dem Arm trug. Ihre Augen waren riesig, der Ausdruck darin jammervoll, ihr Verstand vermutlich durch Unterernährung geschädigt. Obwohl er argwöhnte, daß alle Bettelkinder stundenlang vor dem Spiegel standen, um ihre Leidensmienen einzustudieren, kurbelte Wu das Fenster herunter und drückte dem Vierjährigen eine 20-Peso-Note in die Hand.
Er wußte, daß die Kinder froh sein konnten, wenn sie von dem Dollar, den er ihnen gerade gereicht hatte, zehn Cent behalten durften. Der Rest würde an die Polizisten und an das Syndikat gehen, für das sie arbeiteten. Wu wußte überdies, daß das Syndikat sie, falls sie es schafften, noch ein oder zwei Jahre am Leben zu bleiben, wahrscheinlich ein wenig mästen und der Kinderprostitution zuführen würde.
Nachdem er Manila hinter sich gelassen hatte, fuhr Wu ohne anzuhalten bis Angeles, vorbei sowohl an der weitläufigen Clark Air Base wie auch an der langen Reihe offener Verkaufsbuden, die Schwarzmarktartikel aus dem PX feilboten. Er machte in einem McDonald’s Kaffeepause und beobachtete die achtzehn und neunzehn Jahre alten Männer der US Air Force und ihre fünfzehn und sechzehn Jahre alten Huren, die morgens um zehn Big Macs und Colas und Pommes Frites verputzten.
Später, unweit von Tarlac, Corazon Aquinos Heimatstadt, hielt Wu erneut, schloß den Wagen ab und erklomm einen niedrigen Hügel, um das Denkmal zu besichtigen, das angeblich genau an dem Punkt errichtet worden war, wo 1942 der Todesmarsch von Bataan geendet hatte. Wu war schon etliche Male an dem Denkmal vorbeigekommen, hatte aber früher nie angehalten und war jetzt neugierig, was auf der Gedenktafel stehen mochte. Aber es gab keine Gedenktafel. Jedenfalls konnte Artie Wu weit und breit keine finden.
Der einzige andere Besucher war ein schlaksiger, rotgesichtiger Mann mit schütterem grauen Haar und hinkendem Gang, der herumwanderte und mit seiner Instamatic Fotos machte.
»Wo ist die Gedenktafel?« fragte Wu ihn.
»Hat vermutlich einer geklaut«, sagte der Mann mit einem Akzent, der Wus Meinung nach entweder aus Dakota oder möglicherweise Minnesota stammte.
»Mordsding«, sagte Wu.
»Mordsmarsch.«
»Sie waren damals noch nicht alt genug.«
»Mein Daddy«, sagte der Mann. »So nenn ich ihn immer noch. Daddy. Er ist 1939 in Richtung Philippinen verschifft worden. Ich war
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