Wu & Durant 02 - Am Rand der Welt
und auf Georgia Blue zielte.
»Er will Sie umbringen«, sagte der große Mann in vernünftigem Ton. »Wenn Sie aufhören zu lügen, tut er es vielleicht nicht.«
»Ich weiß nicht, was es ist oder woher es kommt«, sagte sie und wiederholte die Lügen in dem monotonen Tonfall, den man ihr beim Secret Service beigebracht hatte. »Es ist unter der Tür durchgeschoben worden. Ich hab’s nicht aufgemacht. Ich weiß nicht, was drin ist.«
Die plumpen, glatten Lügen bewirkten lediglich, daß auch die letzte Spur Leichtgläubigkeit aus dem Blick des großen Mannes verschwand.
»WARUM?« bellte er in jäher Wut, die ihn zu verzehren drohte. »Warum tut ihr Ausländer uns so schlimme Dinge an?«
Georgia Blue wollte gerade fragen: »Was für Dinge?«, aber dafür blieb keine Zeit, weil seine miteinander verschlungenen Hände wie ein Hammer auf sie herabdroschen. Sie versuchte, dem Hieb auszuweichen, aber die mächtigen Hände krachten auf ihren Kopf, knapp an der Schläfe vorbei.
Sie hatte den eingebildeten Geschmack von etwas auf der Zunge, etwas aus ihrer Kindheit, das sie nicht bestimmen konnte. Aber der Geschmack hielt nur einen Augenblick an, dann kam die Besinnungslosigkeit, und sie schmeckte nichts mehr, nicht einmal das Kupfer ihrer Sammlung alter Indianerkopf-Pennys.
30
Sie lag neben dem einzigen guten Stuhl des Zimmers auf dem Boden und sah aus wie eine weggeworfene Stoffpuppe, eine Position, wie sie nur Tote zustande zu bringen scheinen. Artie Wu fand, daß sie tatsächlich tot aussah. Antonio Imperial, dessen Generalschlüssel die Tür zu Zimmer 426 geöffnet hatte, war davon überzeugt. Nur Quincy Durant hatte noch Zweifel, während er rasch den Raum durchschritt und sich neben Georgia Blue kniete.
Seine Hände schienen genau zu wissen, wo sie tasten und was sie tun mußten. Erst fühlte er nach der großen Arterie an ihrem Hals. Dann zog er ein Augenlid hoch. Danach öffnete er ihre Bluse und legte das linke Ohr an ihre Brust. Dann hockte er sich auf die Fersen und musterte sie einen Moment, bevor er zu Imperial aufblickte.
»Sie lebt, aber Sie sollten lieber einen Arzt holen.«
»Sollte sie nicht ins Krankenhaus?« sagte der Hoteldirektor.
»Das liegt bei dem Arzt. Aber wenn Sie ihr keinen besorgen, könnte sie Ihnen hier wegsterben.«
»Ich hole einen«, sagte Imperial und eilte hinaus.
Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, sagte Durant: »Legen wir sie aufs Bett.«
Wu runzelte die Stirn. »Dürfen wir sie bewegen?«
»Willst du mit ihr sprechen?«
Wu antwortete mit einem Nicken und half Durant, sie sanft auf das nähere der Doppelbetten zu legen.
»Hol mir einen kalten nassen Waschlappen oder ein Handtuch«, sagte Durant.
Während Wu im Badezimmer war, untersuchte Durant die häßliche Schwellung knapp über Georgia Blues linkem Ohr. Nachdem Wu mit einem nassen Handtuch zurückgekehrt war, legte Durant es mit kundigen Händen auf die Schwellung. Georgia Blues Lider flatterten, öffneten sich, schlossen sich und öffneten sich wieder. Tief aus ihrer Kehle drang ein würgendes Geräusch.
»Hol einen Eimer«, bellte Durant.
Georgia Blue erbrach sich in den metallenen Abfalleimer, den Artie Wu ihr hinhielt. Nachdem sie sich zurückgelegt und die Augen geschlossen hatte, fragte sie Durant: »Wie schlimm?«
»Du wirst es überleben, aber du kriegst höllische Kopfschmerzen.«
»Ein Arzt ist unterwegs, Georgia«, sagte Wu, der aus dem Badezimmer kam, wo er den Abfalleimer geleert hatte.
Sie öffnete die Augen und schaute Wu an. »Ein NPA-Spatzengeschwader, Artie. Ein Großer, ein Kleiner. Der Große war fast so groß wie du.«
»Erzähl’s uns«, sagte Wu. »Falls du kannst.«
»Sie wollten über mich und Otherguy Bescheid wissen, und über diesen blöden Streit, den wir angezettelt haben. Und dann wollten sie noch alles über den Brief von Stallings wissen.«
Wu und Durant wechselten Blicke. »Was für ein Brief?« sagte Durant.
Unzusammenhängend und in unvollständigen Sätzen erzählte sie ihnen von Minnie Espiritu und wie diese den schlichten weißen Umschlag ohne Adresse abgeliefert hatte. Wie sie sich an der Rezeption erkundigt hatte, ob Wu und Durant zurück seien. Wie sie auf ihr Zimmer gegangen war und zwei Männer vorgefunden hatte, der eine groß, der andere klein. Wie sie den Kleinen getreten hatte und vom Großen gewürgt worden war. Wie der Kleine die Walther und der Große den Brief gefunden hatte. Aber sie sagte nichts davon, daß sie Stallings’ Brief geöffnet und
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