Wuensch dich ins Wunder-Weihnachtsland
hatten. Neben ihr saß Sven und schaukelte nervös mit den Beinen hin und her. Er war sehr musikalisch und spielte ein Lied auf der Blockflöte. Luisa war gleich nach dem Chorbeitrag an der Reihe. Als sie die Treppen zur Bühne hinaufstieg, griff sie schnell in ihre Jackentasche. Da war er, der Feenstein!
Sie hielt ihn ganz fest in ihrer Hand, während sie die Menschen betrachtete, die dort unten auf ihren Stühlen saßen. Ihre Mutter saß in der zweiten Reihe und winkte. Ihr Vater lächelte, aber er schien nervöser zu sein als Luisa. Da waren noch so viele Gesichter, einige erkannte sie, aber die meisten waren fremd. Dann merkte Luisa, dass das alles gar nicht mehr wichtig war. Es störte sie nicht, dass dort Menschen saßen, die auf ihren Vortrag warteten. Vor ihren Augen erschien das wunderbare Bild einer Winterlandschaft, und sie begann zu sprechen. Sie trug das Gedicht über die Weihnachtszeit mit so viel Gefühl vor, dass so mancher Zuhörer feuchte Augen bekam.
„Sorgen bleiben heute liegen“, sprach Luisa, und die Mutter nickte ihr zu. Ihr Vater konnte nicht nicken, er war einfach nur stolz auf Luisa. Die aber drückte ganz fest ihren Feenstein und sprach weiter. Wie ein Lied flötete sie die Worte und trug ihre Botschaft in die Herzen der Zuhörer.
„Frieden, Glück und Herzlichkeit sind der Weihnacht größter Schatz“, tönte es aus Luisas Mund, und damit endete das Gedicht.
„Wunderbar“, schluchzte ihr Vater durch die Stille.
Luisa sah, dass die Gesichter, in die sie blickte, glücklich wirkten. Die Weihnachtsaufführung war noch nicht zu Ende, aber sie wusste, dass sie etwas Besonderes in den Herzen der Menschen hinterlassen hatte.
Luisa setzte sich auf ihren Platz. Sie war erleichtert und konnte sich jetzt auf das bevorstehende Weihnachtsfest freuen. Langsam öffnete sie ihre Hand und blickte auf eine kleine Schneeflocke, die zu schmelzen begann.
„Nein“, flüsterte Luisa.
„Du brauchst mich nicht mehr. Du bist stark, auch ohne mich“, kicherte eine Stimme, die zweifelsfrei Vanilla gehörte.
Luisa holte tief Luft und sah auf die kleine Pfütze in ihrer Hand. Da waren kein Feenstein, keine Schneeflocke und auch keine Vanilla mehr.
„Aber mein Gedicht werde ich am Weihnachtsabend noch mal vortragen.“
Sie sah nach links und rechts und zweifelte an den Dingen, die sie letzte Nacht erlebt hatte. Da lehnte sich Sven zu ihr und flüsterte: „Hast Parfum benutzt? Hier riecht es ja nach Vanille.“
Luisa lächelte.
„Ja, Vanille ist ein warmer Duft in der kalten Weihnachtszeit!“
Ramona Stolle
wurde in Berlin geboren und ist Lehrerin. Mehrere Beiträge veröffentlichte sie in Anthologien, speziell Lyrik und Kindergeschichten
.
Heidemarie Opfinger
Die Flucht
Ali und Nino sind zu Hause in einem Land, das oft von Naturkatastrophen gebeutelt wird. Ein paar winzige Felder und eine kleine Ziegenherde ermöglichen ihnen in diesem Gebirgsland ein bescheidenes und doch zufriedenes Leben.
Eines Tages, während eines verhältnismäßig milden Winters, ereignet sich ein Erdbeben in ungeahnter Stärke. Es bringt sie an den Rand des Ruins. Sie verlieren fast alles. Nur eine Handvoll Ziegen sind ihnen geblieben. Ihr Haus wird zerstört, die kleinen Felder total verwüstet. Für einen Wiederaufbau reicht das Geld nicht, wenn man schon sonst fast ums Überleben kämpft. Im Nachbardorf, das glimpflich davon gekommen ist, bekommen sie für den Rest des Winters ein notdürftiges Quartier.
Inzwischen ist es Frühling geworden und sie können umherziehen, ihr Tiere weiden und die wenige Kleidung schützt sie einigermaßen.
Dann aber bricht ein unseliger Krieg aus. Da Ali und Nino Angehörige verschiedener Volksstämme sind, können sie nicht mehr in dem Land bleiben, das noch vor kurzer Zeit ihre Heimat war.
Aber sie sind jung und stark. Und sie haben sich, ihre unerschütterliche Treue, ihren festen Zusammenhalt und ihre tiefe Liebe, die in der Not noch stärker geworden ist. So beschließen beide, die Heimat zu verlassen und begeben sich auf die Flucht. Ruhelos ziehen sie umher mit dem Ziegenpärchen, das ihnen als Letztes geblieben ist. Der eine oder andere gewährt ihnen aus Mitleid hier und da Unterschlupf, teilt sein Brot mit ihnen und schenkte ihnen das eine oder andere Kleidungsstück. Auf diese Weise schlagen sie sich mühsam durch bis zur Grenze. Sie wollen hinüber in das Nachbarland, in dem schon etliche von ihnen eine neue Heimat gefunden haben sollen. So hat man es ihnen
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