Wünsche
Küche knallte ein Sektkorken, und jemand rief sehr fröhlich, die Butter sei gleich alle. Ob er den Schinken auf die nackten Brötchen legen solle? Statt einer Antwort war die Musik des alten Films aus dem Fernseher gekommen, so laut, als sei einer von Karatschs angeheiterten Gästen auf die Fernbedienung gefallen.
Da draußen vor der Tür hatten sie beide darüber gelacht.
Licht aus. Film ab, heute fangen wir mit der Vorführung mal ohne Vera an. Leute, ruft Karatsch laut und fröhlich aus dem Wohnzimmer, als Friedrich und der Mann mit dem Rollkoffer den Bungalow betreten. Friedrich beschleicht ein seltsames Gefühl. Er hat Vera vielleicht als Letzter an diesem letzten Tag des Jahres gesehen, zusammen mit Meret. Wenn die eine geht, fällt die andere um, hat er gedacht, als die beiden so dicht beieinander auf der anderen Straßenseite standen.
Der Mann mit dem Rollkoffer hebt einen fremden Schal vom Dielenboden auf und legt ihn oben auf den Berg feuchter Mäntel an der Garderobe, bevor er Friedrich die Hand gibt.
Hannes, sagt er.
Wünsche, sagt Friedrich, Friedrich Wünsche.
Genialer Name, sagt der Mann, schaut kurz auf die Plastikmadonna auf dem Dielenschränkchen, lässt seinen Koffer bei der Garderobe stehen und geht mit den Ellenbogen dicht am Körper ins verdunkelte Wohnzimmer.
Vera kommt heute nicht mehr, denkt Friedrich und ist erschrocken darüber, dass er bei dem Gedanken nicht erschrickt. HEUTE kommt sie nicht mehr, hatte vorhin bereits auf der Stelltafel der Gärtnereibesitzerin gestanden, doch da hatte er die Botschaft noch nicht verstanden. Aber jetzt. Heute ist ein Tag, an dem er in die Zukunft genauso schauen kann wie in die Vergangenheit. Denn HEUTE ist heute.
Als Friedrich ins Wohnzimmer kommt, läuft bereits der alte Film. Alle sitzen. Nur der Mann, der Hannes heißt, hat es vorgezogen, stehen zu bleiben.
23.
Der Beamte bei der Passkontrolle vergleicht Veras Gesicht mit dem Foto der anderen Frau, und sie lächelt dazu. So wird sie dem jungen Beamten, den sie sich genau ausgesucht hat, plausibel vorkommen. Passt schon, mag er denken, die Frau auf dem Ausweisfoto ist ohne Zweifel die Frau, die vor mir steht. Mittelgroß, mittelblond und etwas müder und welker als auf dem Bild. Aber schön. Und dieser Tag, an dem sie vor mir steht, ist nur einer in der langen Geschichte ihrer Schönheit. Dabei ist Vera nicht schön auf den ersten Blick. Der junge Beamte muss gleich mit dem zweiten anfangen und dabei eine plötzliche Unsicherheit in Kauf nehmen, muss kurz mit der Hand seine Nase suchen, und schon hat er sich wieder im Griff. Er gibt den Ausweis zurück und ist sicher, die Person auf dem Bild erkannt zu haben. Aber nicht auf die Art, wie er Madonna auf dem Weg zum Sportcenter trotz Sonnenbrille und Wollmütze erkennen würde, sondern auf die Art, wie Erkennen zustande kommt, wenn etwas das Gemüt bewegt.
Thank you!
You are welcome.
Vera läuft an den Gepäckbändern vorbei und sucht den Ausgang Richtung Zoll. Alles gut, sagt sie zur dunkelblauen Sporttasche, die sie im Laufen in beide Arme genommen hat. Auf die grüne Schrift NOTHING TO DECLARE steuert sie zu, obwohl es in dem Moment schon etwas anzumelden gäbe: Talent!
24.
Auf der weißen Wand über Karatschs Kamin zieht Vera auf einem verwahrlosten Fußballplatz einen Kinderwagen hinter sich her.
Superbeamer, sagt der Mann, der Hannes heißt. Dieses Modell macht so gut wie kein Geräusch. Ist das ein DLP 5285?
Weiß ich nicht, sagt Karatsch, wir nennen ihn einfach Beamy, meine Frau und ich.
Wo ist denn Ihre Frau?
Ich weiß auch nicht, wo sie bleibt, sagt Karatsch ohne Betonung, ich weiß gar nicht, wo mein Vera-Mädchen bleibt. In den warmen, unberechenbaren Augen ist das Weiße noch nicht gelb, trotz des Alters, sieht Friedrich im Restlicht der schwarz-weißen Filmbilder, das auf Karatschs Gesicht fällt.
Veras Kinderwagen ist schwer wie drei Sack Zement, obwohl nur ein Baby mit Mütze darin sitzt. Drei Jungen folgen ihr. Der da in der Mitte, das bin ich, sagt Friedrich und zeigt für Hannes auf einen Jungen mit leberwurstfarbenen Pfadfinderhaaren.
Oh, oh, sagt Hannes, das wird bestimmt so eine Sache wie bei Eisenstein im Panzerkreuzer Potemkin. Da kommt auch so ein politisierter Kinderwagen vor.
Zusammen mit seinen Kumpels holt der Junge, der Friedrich einmal war, einen Ball wie eine Bombe unter dem Baby hervor. Sie drapieren ihn in Elf-Meter-Abstand vor einem windschiefen Tor ohne Netzbespannung. Hinter dem Tor sieht man
Weitere Kostenlose Bücher