Wünsche
eine Reihe dunkler geduckter Häuser und einen rauchenden Schornstein wie eine rußende Kerze, die ein scharfer Wind gleich ausblasen wird. Zwischen Fußballtor und Häuserzeile fährt ein Zug schräg durch einen Sommernachmittag des Jahres 1944, und ein Dachfenster öffnet sich. Hey, wo habt ihr denn den Ball her, wartet mal, wartet mal, schreit ein Halbwüchsiger über den Zug und dessen Lärm hinweg. Das Fenster schließt sich. Schwere, knöchelhohe Schuhe aus brüchigem Leder, in denen zwei dünne Jungenbeine stecken, hasten in Großaufnahme abgestoßene Treppenstufen hinunter. Ein Geräusch, das so klingt, wie Kohlsuppe riecht, denkt Friedrich. Der Junge trägt eine HJ-Uniform, in der stürzt er aus dem Haus. Die Einstellung wechselt auf Vera. Sie zieht dem Baby die Mütze tiefer in die Stirn, während der Hitlerjunge im Gegenschuss bereits mit langen Tigersprüngen über das Fußballfeld rast, ausholt und mit voller Wucht gegen den Ball aus Stein tritt. Mit seinem gellenden Schrei geht der Fokus zurück zu Vera. Sie schiebt den Kinderwagen vom Feld. Ein langsames Lächeln macht ihren großen Mund noch größer, bevor sie in der Tiefe des Bildes verschwindet.
Wo bleibt eigentlich Vera?, fragt das Rehlein. Mittags habe ich sie noch in der Stadt gesehen. Sie hatte es wohl eilig und wollte nicht mal mich treffen, obwohl ich so ein netter Mensch bin.
Wer will schon nette Menschen treffen, wenn er es eilig hat, sagt Lilo Schrei ganz hinten aus dem Dunkel von Karatschs Wohnzimmer.
Ach Vera, sagt Karatsch wieder, Vera, Vera. Er dreht sich zu dem Mann, der Hannes heißt. Das ist übrigens meine Frau Vera. Er zeigt auf die Leinwand hinter sich. Sie sollte schon seit Stunden wieder hier sein. Aber jetzt schauen wir erst einmal den Film zu Ende an, wie in jedem Jahr, sagt er und legt Hannes eine Hand auf die Schulter, danach erst machen wir uns Sorgen, nicht wahr, Friedrich? Karatsch legt die andere Hand auf Friedrichs Oberarm. Wie warm sie sich durch den Stoff des Hemdes anfühlt, diese Hand, die unglücklich ist.
Aus der Küche bringt Jo zwei Platten mit Mettbrötchen. Die auf der gelben sind mit, die auf der blauen sind ohne Zwiebeln, sagt er und bleibt im Türrahmen stehen. Auf den Händen balanciert er die Tabletts neben seinen Ohren, und auf der weißen Wand über Karatschs Kamin mit den Delfter Kacheln klemmt in Nahaufnahme eine alte Frau im Rollstuhl ein Kästchen von der Größe einer Kuckucksuhr zwischen ihre Schenkel und behauptet, einmal Lenin gekannt zu haben. Sie beißt dabei mit schlechten Zähnen auf einem Stück Schnur herum. Ein Mädchen mit Rattenschwänzen hört mit offenem Mund zu. Die Hasenzähne vorn sind noch zu groß für Veras kleines Gesicht, das von einem großen Ernst ist in dieser Szene, den man auch als deutschen Ernst bezeichnen könnte.
Was frisst die Alte denn da?, fragt Hannes laut, und Friedrich, die frisst nicht, die bastelt.
Was denn?
Einen Molotowcocktail.
Und warum?
Jeder hat ein Recht auf Glück, sagt Friedrich.
Wie bitte?
Jeder hat ein Recht auf Glück, sagt die Alte auf der Leinwand. Die Tonspur des Films knistert wie Lagerfeuer.
Seid mal still, flüstert Karatsch, ich glaube, ich habe was gehört. Alle schauen Richtung Diele, aber niemand kommt. Karatsch schüttelt den Kopf und fasst sich an die Brust, genau dorthin, wo man hinzeigt, wenn man Ich sagt. Ach, sagt er, kann nicht mal jemand was Lustiges erzählen? Ich mach mir solche Sorgen.
Der Geruch von Zwiebeln steigt Friedrich in die Nase. Er greift nach einem Mettbrötchen und denkt, jetzt träume ich. Das träume ich jetzt nur, denn er hört, wie Jo etwas sagt, das schlimm ist und auch wieder nicht. Außerdem hat Jo schon als Kind seltsame Dinge geredet. Vor allem seine Mutter hat ihn dafür geliebt.
Jo sagt: Vera ist nur verschwunden, und es ist ihr bestimmt nichts passiert. Weißt du, Karatsch, Menschen, die man liebt, muss man das Recht einräumen, zu verschwinden. Wenigstens für eine Weile.
Die anderen Gäste nicken. Egal, was Jo gesagt hat, sie sind alle nur froh darüber, dass endlich jemand etwas zu Veras Fortbleiben gesagt hat.
25.
Ein Straßenmarkt streckt sein nacktes Gestänge in den kalten Winterhimmel auf der Whitechapel Road. Links geht es zum Supermarkt Sainsbury’s, rechter Hand liegt ein Hinterhof, wo drei Jungen sieben Tage die Woche dicke Autos polieren, ohne Jacken über den dünnen T-Shirts, ohne Handschuhe an den roten Fingern. Das Wasser in den zwei kleinen Eimern ist sicher eisig.
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