Wünsche
Ein Mädchen steht dabei, den Kopf im Nacken und das lange gelbe Haar bis zum Steiß. Der Himmel, darunter die Stadt, dazwischen Wolken, denkt Vera, als sie ebenfalls nach oben schaut und dabei fast gegen eine verschleierte Frau rennt, die keinen Blick mit ihr tauscht. Sie trägt Flipflops, sieht Vera, als sie aus Verlegenheit auf die Füße der Frau schaut. Ohne den Mann, der immer noch einige Schritte vor ihr hergeht, hätte sie nicht so schnell hierhergefunden und vielleicht nie eine Frau in Flipflops auf einer winterkalten Straße im Londoner East End gesehen. Nie wäre sie von allein auf die Idee gekommen, in die grüne U-Bahn-Linie Richtung Upminster zu steigen und fast bis ans andere Ende des Netzes fahren. Sie hätte eine bekanntere Gegend gewählt, eine, die oft in der Zeitung und jedenfalls immer in Fremdenführern steht. Eine, die sie noch aus der Zeit mit Meret kennt. Kings Cross oder Piccadilly Circus. Den Mann aber hat sie gleich am Flughafen Heathrow beim Zollausgang gesehen und sich ihm anvertraut für diese Fremdenführung durch einen Fremden, ohne dass er es bemerkt hätte. Er ging, sie folgte, denn er hatte ihr auf den ersten Blick einen vernünftigen Eindruck gemacht, der Mann, vernünftig wie ein quadratischer Tisch eben. Jetzt ist sie hier, biegt hinter ihm ein in diese wenig einladende, von achtstöckigen Sozialwohnungen überbaute Unterführung. Rechts steht ein kaputter Biedermeierstuhl neben einer offenen Mülltonne. Das Haus, in dem der Mann wenige Schritte weiter zu verschwinden droht, hat einen Vorgarten und ist aus rotem Klinker. Die Fenster, quadratisch und zum Schieben, sind schlecht gegen Winter und Zugluft. In so einem Haus haben sie damals in Barnet bei ihrer Gastfamilie gewohnt, Meret und sie. Als der Mann mit dem Fuß die Haustür aufstößt, riecht es nach Chicken Curry.
Entschuldigen Sie.
Er dreht sich um. Dass er eine dicke Brille trägt, hat sie bereits in der U-Bahn gesehen.
Kennen Sie ein preiswertes Hotel hier in der Nähe?
Der Mann lächelt so, dass sie einen Moment lang denkt, er ist schwarz. Aber es sind nur seine Zähne, die sehr weiß sind.
Viele gibt es nicht, und richtig teuer ist keins, sagt er, nehmen sie doch das City View beim Museum of Childhood, U-Bahn-Station Bethnal Green. Er schickt sie mit ausgestrecktem Zeigefinger den Weg wieder zurück, den sie mit ihm hergekommen ist.
Ohne die Tür hinter sich abzuschließen, wirft sie sich eine halbe Stunde später auf eine Tagesdecke mit beunruhigendem Blumenmuster und zieht nicht einmal die Westernstiefel aus. Die Neonschrift HOTEL über ihrem Fenster färbt das Zimmer rot, und Vera dämmert vor sich hin mit dem Gefühl, in einer jener Dunkelkammern zu liegen, die es früher gab. Auf Reisen gleichen wir einem Film, der belichtet wird. Entwickeln wird ihn die Erinnerung, hat einmal ein Schriftsteller gesagt, der längst tot ist. Manchmal hat sie ihn vor den Schülern in ihrer Berufsschule zitiert. Aber ihre achtzehnjährigen Maler, Installateure, Schreiner und Lackierer können nicht mehr viel anfangen mit alten Filmen aus Zelluloid, auf deren glänzendem Schwarz erst in Dunkelkammer und Entwicklungsbad etwas sichtbar wird.
Sie schläft drei Stunden. Das ist gerade lang genug, um sich beim Aufwachen verlassen zu fühlen. Der alkoholeuphorisierte Gesang anderer Gäste draußen auf dem Gang hat sie geweckt. Iren? Vielleicht. Iren singen immer, wie Italiener auch. Nur tragen Italiener dabei Sonnenbrillen, auch in der Metro. Sie stützt sich auf die Ellenbogen und schaut auf ihre Stiefel hinunter. So sitzt sie eine Weile, reglos wie eine Eidechse, mit gespreizten Beinen auf der geblümten Tagesdecke, und denkt an einen Tag in Rom. Auch den hat sie mit Karatsch verbracht. Mittags an einer Kreuzung in Trastevere saßen sie in einem kleinen Lokal. Könnte hier auch ein Dorf sein, sagte sie zu Karatsch, fehlt nur noch die Tankstelle. Ein Mann vom Nachbartisch zeigte auf sie und sagte, das ist die Zeit der Eidechsen. Er streckte die gespreizten Finger in der Sonne aus.
26.
Während Hannes und Friedrich lange nach dem Ende des alten Films als letzte Gäste den Bungalow verlassen, steht Karatsch am Gartentor und winkt. Hannes wird mich ab Januar in der Jazzagentur unterstützen, hatte er erzählt, als er den neuen Gast in der Runde alter Freunde mit einiger Verspätung vorstellte. Er wird einen neuen Internetauftritt mit Newsletter und Videos organisieren, denn er macht richtig gute Filme. Ich, Karatsch, bin zwar fast
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