Wünsche
Leben ist doch viel anstrengender als das Totsein.
Was für Gedanken. Aber Silvester ist noch nie ein leichter Tag für ihn gewesen. Für den Abend hat er sich mit Meret an der Bar des Bahnhofshotels verabredet. Vielleicht wird auch Hannes dort sein, auf der Flucht vor einem hässlichen Zimmer mit Blick auf die feuchte Brandmauer des Nachbarhauses, mit weißer, aber geflickter Bettwäsche und auf dem alten Röhrenfernseher das gerahmte Foto eines Spitzes, der längst tot sein muss. Letztes Jahr hat Friedrich zwischen den Jahren selber in diesem Hotel gewohnt.
Er konzentriert sich auf die Frontscheibe, hinter der der Fahrer klebt, als sähe er schlecht, und wünscht sich, das Jahr, das kommt, wäre schon im Frühling angelangt und er selber um einige Monate klüger.
Nacht
27.
Sie hat sich vor wenigen Minuten an der Hotelbar zu ihm gesetzt. Er hat seinen Zimmerschlüssel auf den Tresen gelegt. Ob dieser Mann erst heute angekommen ist? Wie alt er sein mag? Jung, entscheidet sie für sich. Wir haben uns schon einmal gesehen, sagt sie, damit sie endlich miteinander reden.
Sicher?
Ganz sicher. Mir gehört das größte Warenhaus hier am Marktplatz. Das kennen Sie bestimmt. Mein Geschäft in Kiel habe ich vor Kurzem erst aufgegeben. Ich heiße übrigens Meret, und Sie?
Jetzt hat er gelächelt. Wahrscheinlich heißt er Manfred oder Kai-Uwe. Aber für diese schlimmen deutschen Namen ist er die falsche Generation.
Soll ich Ihnen mal meinen Traum von letzter Nacht erzählen?
Bitte nicht, sagt er, und sie putzt sich die Nase, schaut, ob er noch schaut, und sagt: Mein Freund und ich müssen in eine andere Stadt ziehen, habe ich geträumt. Wir bekommen provisorisch ein Zimmer bei meiner Freundin, die beim Film gelandet ist, beim schwedischen.
Was reden Sie da?
Ich erzähle meinen Traum.
Halt, langsam, sagt er, langsam, schöne Frau!
Schöne Frau , hat er gesagt? Sie spürt ein Pulsieren in Fingern und Zehen und legt die Unterarme auf den Tresen. Eine Frau zu sein, ist eine schrecklich schwierige Aufgabe, sagt sie, wissen Sie auch, warum?
Er zuckt mit den Schultern.
Weil eine Frau es vor allem mit Männern zu tun hat, deswegen hat sie es so schwer. Ich bin übrigens eine schwache Frau, wollen Sie mich beschützen?
Heute Abend nicht.
Warum nicht?
Ich mag keine schwachen Frauen.
Aber ich mag Männer, die aussehen, als würden sie Sport machen.
So kann man sich täuschen, sagt er, ich mache keinen Sport.
Kein Sport? Sie beugt sich weit vor. Wie heißt der denn?
Wer?
Sie zeigt auf ihn: Der Mann, der keinen Sport macht?
Offensichtlich ist er bereits erschöpft von ihren Fragen und schaut auf die Schnapsauswahl der Hotelbar. Auf dem Flachbildschirm darüber läuft ein Musikclip. Viele Menschen heben an einer nächtlichen Tankstelle irgendwo am Rand der Welt die geballten Fäuste. Schnitt. Eine Gardine vor einem geöffneten Fenster. Schnitt. Ein Mann, eine Frau und ein Bett. Schnitt und Nahaufnahme. Die Frau fällt über den Mann her. Kurz sieht es so aus, als sei der Mann ans Bett gefesselt. Aber das kann auch eine optische Täuschung sein.
Meret stemmt sich von ihrem Barhocker hoch. Ein weicher Körper, aber hart im Nehmen, sagt ihre Haltung. Das weiß sie. Dieser Mann, der zwei Barhocker von ihr entfernt sitzt, kann hoffentlich bei dem Licht hier die Linien nicht sehen, die das Alter um die Augen, den Hals entlang bis hinunter ins Dekolleté gestickt hat. Schönheit, die verblasst, lässt, was gewesen ist, noch schärfer hervortreten, hofft sie, doch sie balanciert seit Jahren schon auf schiefen Hoffnungen. Sie kann bezaubernd sein, sie kann die Pest sein, vor allem, wenn sie getrunken hat, auch das weiß sie. Sie hebt ebenfalls die Faust und singt mit, während die Frau im Clip auf dem Mann herumrutscht, ebenfalls singt und sich deutlich mehr für ihre Frisur als für ihre Lust interessiert. Der Hotelbesitzer schiebt Meret ein Schälchen mit Erdnüssen über den Tresen, und sie setzt sich wieder, lächelt und wiederholt mit etwas eingedickter Stimme, ich bin wie gesagt die Frau, der das größte Warenhaus hier am Platz gehört, nicht wahr, Schmidtke? Unbestritten, es gibt ja nur eins, antwortet der Hotelbesitzer, bevor er durch eine weiße Schwingtür verschwindet, auf der KÜCHE steht.
Ich bin also reich, sagt Meret zu dem Mann, der ihre Träume nicht zu Ende hören will, und was sind Sie? Er steckt die Hände in die Taschen. Sind wohl ein ganz Vorsichtiger, wie mein Bruder, kräht sie plötzlich lauter,
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