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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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Rauchfäden von Raketen schlängeln sich an den Laternenpfosten hoch wie Gespenster.
    31.
    GHOSTS steht in gotischen Lettern auf der Stelltafel beim Kircheneingang von St John on Bethnal Green. Bisher hat es in Gotteshäusern doch nur einen Heiligen Geist gegeben? Vera bückt sich und liest das Kleingedruckte. GHOSTS ist eine Filmreihe, die seit September in dieser Kirche läuft und ihren Höhepunkt am kommenden Samstagabend haben wird. Der Exorzist wird gezeigt. Sie schaut auf zu den Flügeln der hohen Eingangstür, deren hellblauer Anstrich abblättert. Drinnen brennen Kerzen, und bereits vor der Tür riecht die Luft feucht nach Metall und Erde, ein tiefer, archaischer Geruch wie der von Feldern und Wäldern. Vera hat das Gefühl, sie betrete eine riesige Gruft, als sie hinter dem Mann mit der kleinen alten Frau am Arm die Stufen zum Portal hinaufgeht, um mit den beiden gemeinsam das große Feuerwerk beim Riesenrad an der Themse nicht anzusehen.
    Es ist kurz nach elf. Zu Hause ist es bereits eine Stunde später.
    32.
    Die ersten Feuerwerkskörper liegen als verschmorte Hülsen auf dem Gehsteig. Die Straßen, die sonst nach Einbruch der Dunkelheit ihre Bürgersteige hochklappen und bis zum Morgen wie ausgestorben vor sich hindämmern, sind voller Menschen, voller Kinder, voller Lärm. Friedrich läuft zurück Richtung Marktplatz. An seinen Ohren heult sich der Wind warm. Über ihm die Wolken marschieren gemeinsam, sind dunkel und schnell. Durch ein Fenster des Bahnhofshotels hat er flüchtig Meret, Hannes und Schmidtke an der Bar hocken sehen. Drei oder vier Plätze waren noch frei. Er hat an Vera gedacht, und es ist bei dem Gedanken stiller geworden auf der belebten Straße. Bevor klar wurde, dass er mit dem Tod von Mutter Martha Haus Wünsche doch noch übernehmen würde, hat er sich gewünscht, zu verschwinden, im Osten Deutschlands vielleicht, und eine Eisdiele zu eröffnen. Eine Eisdiele im Retrostil und mit einer alten Holzdrehtür im Eingang. So wie die in Haus Wünsche, als er noch klein war und Vera und Meret auch. Jetzt ist Vera verschwunden. Er fühlt sich mit ihr verbunden. Das Leben hier hat sie so lange nur ausgehalten, weil sie sich ein anderes vorgestellt hat. Eins, in dem keiner sie von früher kennt.
    Auf das neue Jahr, Friedrich, altes Haus, ruft in dem Moment jemand quer über die Straße. Vor der Auslage eines unbeleuchteten Schaufensters steht Reimann, neben dem er bis zur achten Klasse und dem Wechsel aufs Internat gesessen hat. Im Takt eines mit den Jahren träger gewordenen Herzens schlägt Reimann eine Sektflasche gegen seinen Oberschenkel.
    Mein Laden, sagt er und zeigt kurz mit der Flasche hinter sich. Philatelie/Reimann steht in Selbstklebebuchstaben auf der schmuddeligen Schaufensterscheibe. Dann hält er Friedrich die Flasche hin. Trink mit mir auf unser geschäftliches Weiterkommen im nächsten Jahr. Auf deins und meins. Er zieht Friedrich mit sich zum Treppenaufgang des benachbarten Wohnhauses, um sich dort schwerfällig auf eine Fußmatte aus Restteppich fallen zu lassen und seine Turnschuhe neu zu binden. Sie leuchten weiß in die Nacht hinaus. Zwei Dutzend Jahre haben sie sich nicht gesehen. Eine städtische Laterne flackert im Wind, und Friedrich sieht auf Reimann hinunter, sieht die kahle Stelle am Scheitel, wo einmal die Fontanelle war, und merkt, dass Reimann Schuhe bindet wie ein Kind, das zwei einzelne Schlingen umständlich miteinander verhakelt.
    Wohnst du immer noch hier? Friedrich freut sich, dass ihm die Herzlichkeit in der Stimme gelingt. Reimann schaut hoch.
    Mal was ganz anderes, sagt er, wie wirst du denn eigentlich deinen Laden neu aufziehen?
    Ich bin Betriebswirt, will Friedrich sagen, aber was ist das für eine Antwort. Was an dieser Geschäftsidee, Haus Wünsche in einen behaglichen Stubenladen im alten Stil zurückzuverwandeln und gleichzeitig modernstes Management zu betreiben, verspricht eigentlich Erfolg? Allein die Tatsache, dass Friedrich Wünsche bisher erfolgreich war?
    Wollen Sie reich werden?, hatte ihn der alte Mann mit wasserblauen Augen in einem schleppenden, breiten, aber trotzdem gebieterischen Ruhrgebietston gefragt, als Friedrich Wünsche sich bei dem Familienunternehmen mit Milliardenumsätzen als Assistent für die Geschäftsleitung vorstellte. Mit seinem alten Golf Diesel und dem Diplom als Betriebswirt in der Tasche war er an jener Autobahnausfahrt vorbeigefahren, wo es zu Mutter Martha und dem eigenen Familienbetrieb ging. Keinen Kilometer

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