Wünsche
Straßenseite her. Doch waren selbst die Männer vom Autoscooter längst verschwunden.
Ja, für seine Gefühle kann man nichts, und es ist auch schon spät, sagte die Frau da verlegen, als schäme sie sich für ihre heftige Anteilnahme, die sie vielleicht an den Falschen verschwendet hatte. Aber er war nicht der Falsche. Er machte alles richtig, bisher. Auch gegenüber Vera.
Er war sogar noch einmal, ohne Jo, aber gefasster als beim ersten Mal, aufs Präsidium gegangen, um anzubieten, einer netten Polizistin aus Veras Tagebüchern vorzulesen und mit ihr die Passagierlisten umliegender Flughäfen, Datum 31. Dezember, durchzugehen. Er hatte vorgeschlagen, sich unter ihrer professionellen Anleitung einen Reim auf Kreditkartenumsätze zu machen, die bislang jedoch ausgeblieben waren. Er hatte angeboten, Futter für alle Spürhunde im Kreis zu spendieren, wenn es denn endlich eine Suchaktion geben würde, und auch eine Liste von alten Freunden erstellt, die zwei oder drei Dinge mehr über Vera wissen mochten als er. Gegen großen inneren Widerstand hatte er Friedrich und gegen einen noch größeren Meret Wünsche ganz oben auf die Liste gesetzt. In den ersten Tagen nach den Weihnachtsferien hatte er der Schule gegenüber für Vera gelogen. Sie ist krank, hatte er gesagt, ich bringe ein Attest. Als kein Attest kam, war der Direktor persönlich vorbeigekommen. Bei einer Tasse Kaffee hatte Karatsch auf die Schlafzimmertür gezeigt und den Finger an die Lippen gelegt: Sie schläft sich gerade gesund, hatte er gesagt, um dann nach dem dritten Bier endlich einzugestehen, dass das Bett hinter der Tür leer war. Er hatte vor den Augen des Direktors geweint, der später trotzdem großen Ärger gemacht und schriftlich mit einem Disziplinarverfahren sowie Veras sofortiger Entlassung aus dem Schuldienst gedroht hatte. Sie kommt wieder, bestimmt, hatte Karatsch zurückgeschrieben, und alle Zahlungsrückforderungen ab Januar beglichen, obwohl sein Hals vor Ärger immer kürzer geworden war, wie er morgens im Spiegel feststellen musste. Ach, der Spiegel im Bad, in den er beim Rasieren seit Monaten bereits allein schauen musste. Manchmal fing der rasch an, sich die Zähne zu putzen, damit er nicht weinen musste. Ob Vera da, wo sie jetzt war, das auch machte?, dachte er dann, so wie er sich manchmal verloren in einer fremden Stadt fragte, ob es Zuhause jetzt wohl auch regnete? Dann fühlte er sich weniger allein. Aber Vera hatte wahrscheinlich längst einen anderen gefunden, ja, ganz sicher hatte sie einen Mann gefunden, sonst wäre sie bereits zurück. Er war also frei. Er schaute die Frau in den Flipflops an. Sie frieren wohl auch so gut wie nie?, hätte er sie gern mit Blick auf die nackten Füße gefragt. Plötzlich hatte er die Vorstellung von einem langen, leichten Abend.
So war es übrigens angekündigt, sagte die Frau.
Was?
Das da. Sie tippte wieder gegen die Scheibe. Sie nennen es öffentliches Schlafen , und es ist eine Werbeaktion von Haus Wünsche.
Karatsch beugte sich zu ihr. Nicht aus Gier, nur aus Neugier. Oder nicht, oder doch? Da war er wieder, dieser Geruch nach Zitrone, verführerisch und unschuldig zugleich.
Öffentliches Schlafen, wer hat denn so eine Idee?
Eine Künstlerin, sagte die Frau in den Flipflops und zeigte auf das Bett im Fenster. Das ist eine Künstlerin.
Die Schlafende drehte ihren Kopf ins Profil und lag wie aufgebahrt auf dem Rücken.
Nix Künstlerin, sagte Karatsch.
Die Frau in dem Bett war Meret. Meret, diese unmögliche Schwester von Friedrich Wünsche und die Freundin von Vera, vor langer Zeit. Meret sprang morgens um drei ungebeten mit ins Taxi und redete vom Onanieren und von Toten. Meret hüpfte lärmend in Vorgärten anderer Leute herum, piepste, ich bin’s, ich habe keinen Vogel, ich bin heute einer. Bei jeder ihrer Störaktionen trug sie in Karatschs Vorstellung lange weiße Lackstiefel, in denen sie eifrig vorauslief, wenn es darum ging, peinlich zu sein.
Hier schläft die Chefin des Hauses persönlich. Karatsch tippte gegen die Schaufensterscheibe. Eindeutig, sagte er trocken. Die Nase, die kenne ich doch.
Von einer Kneipe, die bereits geschlossen hatte, gingen sie zur nächsten, die gerade schloss.
Sie sagte: Das Wichtigste im Leben ist, dass man glücklich ist.
Sie sagte: Glück ist nichts anderes, als einem geliebten Menschen nah zu sein.
Sie sagte: Ich habe heute schon sechs Zigaretten geraucht. Die letzte vor dem Schaufenster, als Sie gerade kamen. Karatsch nahm sie
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