Wünsche
Heimatfest mit einer Riesenkirmes den Ort. Mein Gott, was für ein trauriges Nest das doch war für alle diejenigen, die hier hocken blieben. Die gedämpften Kirmesklänge schienen im Weitergehen vor ihm zurückzuweichen und sich hinter ihm wieder zu schließen. Die Lichter der Fahrgeschäfte zuckten näher und näher. Letzte Nacht hatte Karatsch von Suse geträumt. Wie sie ihn stutenhaft anschaute. Fiel ihm das wegen der albernen Lichtwechsel da unten im Tal jetzt wieder ein? Das Weiß in Suses Augen war gleißend vor Sorge gewesen, in dem Traum. Pinkelst du?, hatte sie gefragt, kotzt du? Sie war näher gekommen. Neben ihr war eine dünne Birke hergelaufen. An die sollte er gepinkelt haben? Er erinnerte sich nicht, aber sein Gesicht war feucht. Glück gehabt, du weinst ja nur, hatte Suse festgestellt. Da hatte er sie plötzlich unbedingt gewollt, aber sie nicht ihn. Er hatte sie gegen diesen verdammt dünnen Baum gedrückt. Die Rinde, grau wie nasse Asche.
Bei der alten Stadtmauer angekommen, folgte Karatsch einer schmalen Gasse. Die Vorgärten der niedrigen Häuser dort wucherten über die Zäune. Auf einer Fensterbank lag eine Drahtbürste mit einem Knäuel violetter Haare darin. Wenige Schritte weiter stand das erste Kinderkarussell. Als Karatsch bei der Losbude ankam, wo Jo für Vera einmal eine Taube gewonnen hatte, gingen auf einen Schlag alle Lichter der Fahrgeschäfte aus. Nur der Autoscooter an der Längsseite des Marktplatzes gleich bei Haus Wünsche spielte einen letzten Song. New York, New York. If you can make it there, you make it everywhere . Dann schoben auch dort zwei junge Männer, die fast nur aus Oberarmen und Tattoos bestanden, die letzten bunten Wagen Puffer an Puffer zusammen.
Feierabend, Opa!, sagte der eine. Karatsch zeigte ihm den Stinkefinger.
Hey, ich zeig dich an, Alter, sagte der andere.
Karatsch fror, als er sich wegdrehte. Aber es stimmte. Das war jetzt das Alter. Die Dürre. Auch sein Spielpartner beim Squash, einer von diesen Jungsenioren, besiegte ihn in letzter Zeit immer häufiger, und wenn Karatsch ehrlich war, war er schon eine Weile darauf erpicht, zu verkünden, dass er nun alt sei. Diskret wollte er sich von sich selbst verabschieden, noch bevor andere sich von ihm verabschiedeten. So würde leichter werden, was ohnehin bevorstand.
Mit den Frauen hatte es angefangen.
Einmal, kurz bevor er an Bord der Hiroshima ging, hatte der Sohn ihn dabei erwischt, dass er sich mit Sara, seiner Silvesterbekanntschaft, traf. Wenn er sie zu sich nach Hause bestellte, dachte er davor an Suse, danach nur noch an Sara. Zwischen den beiden Frauen verschwand Vera, als sei sie eine verblichene Markierung, ein unmerklicher Schritt nur von einem flachen zu einem kaum tieferen Gewässer. Bei seinem letzten Mal mit Sara hatte Karatsch allerdings vergessen, die Armbanduhr abzunehmen. Erst als er auf ihr lag, hatte er es bemerkt. Diese verdammte Uhr! Wegen der war Vera plötzlich doch mit im Zimmer gewesen. Karatsch hat eine seiner bewährten erotischen Fantasien bemühen müssen, um den Akt ohne große Peinlichkeiten für sich zu Ende bringen zu können. Gott ja, alles war anders geworden mit den Frauen, seitdem seine eigene wegblieb. Selbst die Anregungen aus dem Netz brachten ihm nur noch selten frischen Bildervorrat für gewisse Stunden. FREE PORN! FREE SEX! PERFECT GIRLS tippte er immer lustloser in seinem Souterrainbüro in den Computer ein, um manchmal nach wenigen Minuten schon etwas ganz anderes aufzurufen. www.vesseltracker.com/de/Ships/Ym-Hiroshima-9 122 394. In einer grisseligen Dunkelheit verfolgte er dann auf dem Bildschirm die Reise des Sohns auf der Hiroshima im Netz, folgte mit Lesebrille auf der Nase jenen gefrorenen Restlichtern eines versprengten Feuerwerks, rot wie Limonade, in der Dämmerung, die für ihn Jo auf dem Meer markierten. Sogar den Frachter selbst glaubte er manchmal als erleuchteten Punkt zu erkennen, als einen unter vielen anderen erleuchteten Punkten, bevor er verschwand in einer riesigen Nacht, die über dem Meer lag. Andere Punkte hatten ihn abgelöst, die ebenfalls wieder verschwanden für wieder andere. Während Karatsch so auf den Bildschirm starrte, erinnerte er sich an jene winzigen Punkte, die er genauso, aber vor fast zwanzig Jahren vom Balkon eines alten Hotels mit Blick auf das Meer gesehen hatte. Im Arm hatte er damals ein schreiendes Baby gehalten, den Sohn. Auf diese Weise schloss sich für ihn der Kreis vom Neugeborenen zum jungen Mann. Ja,
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