Wünsche
dieser Sohn war und blieb sein Sohn, egal, was die Leute bei der Geburt geredet und gedacht haben mochten, und er auch. So getröstet, fing Karatsch manchmal an zu weinen. Den Bildschirm musste er dann Bildschirm sein lassen und seinen alten Globus oben aus Jos Zimmer holen, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich eine Linie vom Sohn bis zu ihm durch den Erdball lief. Mein Gott, ja, der Globus war der Beweis. Es gab sie noch, die alte Welt, in der Karatsch mal ruhig gelebt hatte, bis einiges anders wurde.
Er überquerte die leere Straße vor Haus Wünsche. Selbst am Bierstand, an dem er am Freitagmittag mit Hannes das Feierabendbier getrunken hatte, stand keiner mehr. Trotzdem fühlte er sich beobachtet, ohne zu wissen warum.
Vor dem mittleren der sieben Schaufenster hielt er inne. Jetzt schaltete auch der Autoscooter in seinem Rücken die Beleuchtung aus, und im Schaufenster brannte einsam das grüne Licht einer Leselampe. Sie stand auf dem Nachttisch eines Bettes, in dem mit abgewandtem Gesicht eine Frau schlief. Sie war echt, merkte Karatsch, als sie den Kopf bewegte. Er sah ihre Wange, dann die spitze Nase, während sie den Kopf nach links rollte, um die andere Gesichtshälfte im Kissen zu vergraben. Beide Handflächen presste er plötzlich gegen die Schaufensterscheibe, wie ein Kind, das ein Spielzeug in der Auslage unbedingt will. Er kniff die Augen zusammen. Der zweite Blick bestätigte den ersten. Die Frau dort drüben im Bett könnte seine, könnte eine etwas mitgenommene, im Schlaf schmollende und zu dick geschminkte Vera sein.
Hallo? Er klopfte gegen das Glas. Die Frau hinter der Scheibe reagierte nicht. Der Schein ihrer Nachttischlampe konzentrierte sich auf das Buch, nicht auf sie. Es lag auseinandergebogen, mit dem Gesicht nach unten auf dem Nachttisch. Gleißendes Glück , las Karatsch den Titel. Der Autor hieß A.L. Kennedy. Er kannte nur einen amerikanischen Präsidenten, der so hieß.
Hallo? Er klopfte heftiger. Das gab es also noch, dieses Gefühl. Er erinnerte sich: Eine Frau sagt, mir ist jetzt kalt, und drängt sich an einen. Ein Blutstoß pumpte durch Karatschs Herz. In seinem Mund schmeckte die Rückseite der Zähne nach Meer, nach Fisch. Das gab es also doch noch, diese Art sexuellen Begreifens, wenn man sonst nichts begriff? Er sei zu alt dafür, hatte er in letzter Zeit immer häufiger gedacht. Seine Haut lud sich statisch auf und erschauerte. Alles gehörte augenblicklich ihm, auch die Dinge, die er nicht verstand. Auch die würden zu ihm kommen und mit ihm sprechen.
Hallo, geht’s noch, hörte er jemanden dicht hinter sich sagen. Ein Zeigefinger mit dunkel lackiertem Nagel drückte sich neben seiner Hand auf das Glas.
Lassen Sie doch die Frau da in Ruhe. Ein Lachen schwang mit in der Stimme. Gefällt Ihnen, die Performance, oder?
Karatsch drehte den Kopf.
Die Frau gefällt mir, sagte er zu der Frau, die neben ihm stand.
Mir auch.
Sie sieht jemandem verdammt ähnlich.
Finde ich auch.
Sie erinnert mich an jemanden.
An wen?
An meine Frau.
Sorry.
Wieso sagen Sie jetzt Sorry?
Er sah sie genauer an. Sie trug Flipflops, obwohl es nicht mehr warm war, und langes, offenes Haar, dessen Helle er unter dem Streulicht der Straßenlaterne keiner Farbe zuordnen konnte. Deutlich aber stieg ihm der Geruch nach Zitrone in die Nase.
Ist Ihre Frau nicht tot?
Quatsch!
Schlecht aber war die Idee nicht. Auf diese Ausrede hätte er längst selber kommen können. Hatte er nicht neulich nachts sogar geträumt, er würde hinter einem Sarg hergehen? Wieso hatte er beim Aufwachen nicht gleich beschlossen, ab heute Witwer zu sein? Witwersein hatte eine tragische Größe, war einfach erträglicher, als verlassen und deswegen der Vorgeführte zu sein.
Aber sie ist fast tot, sagte er.
Ach, tut mir wirklich leid.
Der Geruch von Zitrone wurde stärker, während die Frau sich auf die Unterlippe biss und dabei einen halben Schritt näher kam.
Ich verstehe, es ist schlimm, einen geliebten Menschen leiden zu sehen, schlimm mit anzusehen, dass er sterben will, aber nicht kann.
Quatsch, wiederholte Karatsch, sie ist nicht krank, meine Frau. Sie wird auch in den nächsten dreißig Jahren nicht sterben. Nur für mich ist sie so gut wie tot. Wenigstens mein Gefühl fühlt sich so an.
Gegen seinen Willen schaute er am Ende des Satzes auf seine Armbanduhr. Wieder hatte er das Gefühl, mit dieser Frau in den Flipflops nicht allein zu sein. Da, ein Schatten. Jemand beobachtete sie von der anderen
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