Wünsche
anderen Leute am Ort fragten sich, warum Meret und Friedrich als Geschwister so unterschiedlich geraten waren. Waren sie das wirklich? Meret war fünfzehn Monate älter als ihr Bruder. Beide stammten nur auf ihre eigene Art direkt von Mutter Martha ab, und in beide hatte sich seine Vera einmal verliebt. Falls sie sich unterschieden, dann so, wie Wunsch und Sehnsucht sich unterscheiden.
Wir schließen gleich, sagte Friedrich und lächelte jungenhaft.
Bis Samstag dann, sagte Karatsch, aber euer Bier bringt ihr selber mit.
Draußen auf dem Gehsteig drehte Karatsch sich noch einmal zum Haus Wünsche um. Die Flügel der Drehtür rotierten, bis sie mit einem letzten Seufzer still standen. Es war das Bürstenhaar zwischen Türkante und Gehäuse, das so melancholisch geklungen hatte in seinem Rücken. Und was war das eigentlich für eine mädchenhafte Scheu, wegen der er seine neue Bekannte mit dem Akzent auf dem e nicht einfach anrief?
Von der Kirche mit den zwei Türmen schlug es acht. Fräulein Möller ging wie ein junges Mädchen in die Hocke, um auf der Höhe der Fußleiste die alte Drehtür abzuschließen. Als sie sich wieder aufrichtete, fing er ihren Blick auf. Darin die sorgenvolle Frage einer Kaufhausnonne.
Karatsch schaute ohne einen Wimpernschlag zurück. Nein, Vera war nicht tot. Das sagte ihm ein feines Geräusch im Universum.
Dienstag baute die Kirmes ihre Fahrgeschäfte ab und verließ die Stadt Richtung Norden. Karatsch stand am Fenster seiner Agentur und sah ihnen hinterher. Sie verschwanden in der Dämmerung über die gleiche Ausfallstraße, über die sie im nächsten Jahr zurückkommen würden. Ein Stockwerk unter Karatschs Fenster räumte Giuseppe vor seinem Eiscafé Venezia Tische und Stühle zusammen.
Karatsch machte auf dem Weg von der Agentur zu seinem Bungalow einen Schlenker Richtung Schule. Vor dem Tor aus Backstein stieg er aus. Dunkel war es längst, und niemand sah, wie er die Birke am Ende einer Reihe von Fahrradständern gleich neben dem Eingang der Turnhalle umarmte. Sähe ihn jemand so, er müsste denken, dass dieser Karatsch nun einer geworden war, der mit dem Baum tanzte. Die Birke hatte mitgespielt in dem alten Film, den Karatsch sich wegen Vera seit letztem Silvester nicht mehr nur an Silvester ansah. An jene Birke gelehnt hatte er sie das erste Mal gesehen, ein mageres, strohblondes Mädchen von zwölf Jahren, das eine Packung Zigaretten aus der verfilzten Strickjacke zog und sich eine anzündete. Sie hatte damals bereits so erotisch verheult ausgesehen wie Romy Schneider, aber war noch nicht wie zwei oder drei Jahre später jene Vorortschönheit gewesen, die nur darauf wartete, die Straße, aus der sie kommt, für immer zu verlassen. Es war Suses Idee gewesen, das Mädchen zu sich zu nehmen.
Du weißt, wo sie herkommt?
Ist das ein Grund, es zu tun und oder es nicht zu tun, Karatsch?
Dann sollten wir sie gleich adoptieren.
Nein.
Warum nicht?
Man weiß ja nie, in welche Situation man noch einmal kommt, hatte Suse gesagt, damit aber wohl nicht gemeint, was später passierte.
Karatschs Finger schoben sich auf der anderen Seite des Stamms fester ineinander. Zu Zeiten der Dreharbeiten war der Baum noch ein Bäumchen gewesen. Jetzt war er dicker. Aber wer war nicht dicker geworden in den letzten dreißig Jahren? Die Umarmung hielt er so lange, wie er früher einmal Vera geküsst hatte, als sie sich noch lange geküsst hatten. Ihren Atem glaubte er zu spüren an seinem Ohr, ein leises, pfeifendes Auf und Ab in der Nase, das ihren Schlaf begleitet hatte, als sie noch neben ihm lag. Einmal hatte er Vera in einem Hotel nackt fotografiert. Er hatte sie gebeten, am Fenster zu stehen, in der Hoffnung, jemand käme vorbei und würde die Lust an seiner Frau mit ihm teilen. Geteilte Lust war doppelte Lust. Einmal hatte er eine Videokamera mit Stativ am Fußende des Ehebettes installiert und Vera und sich bei der Liebe gefilmt. Jene Aufnahmen aus immer gleicher Entfernung und Perspektive waren von einer erbärmlichen Trostlosigkeit gewesen. So hatte es wohl angefangen, dass sie langsam aufhörten, miteinander zu schlafen.
Karatsch löste die Finger auf der anderen Seite des Stamms, drehte sich zur Straße, stemmte einen Fuß gegen die Rinde und zündete sich eine Zigarette an. Mit der Pose kehrte sogleich seine alte Sicherheit, eine fast jugendliche Unbedarftheit zurück, wegen der Vera ihn manchmal Bauklötzchen genannt hatte. Mein Gott, vielleicht hätte sie immer schon besser zu einem
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