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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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ich hol uns mal noch ein Bier, sagte er.
    Vor dem Dielenschrank blieb er stehen und fasste vorsichtig den braunen Umschlag an. Seine Finger lasen nochmals mit: London. Was war das für ein Stechen in seiner Brust? Er schloss die Augen und sah Vera. Sie ging über eine der vielen Brücken der Themse. Dort regnete es, wie es den ganzen Tag über auch hier geregnet hatte. Sie ging, eine schmale Gestalt, eine junge Frau, von hinten betrachtet eine Studentin vielleicht, in die große Stadt geschickt von einem Vater, der ein eigenes Haus und genug Geld hatte. Sie entfernte sich so langsam, die Gestalt, als gäbe es trotz des Regens kein Frieren.
    Karatsch nahm den braunen Umschlag. Das Bier vergaß er.
    Diese Frau hat mir den Pass aus London zurückgeschickt, sagte Salomé Schreiner später, als sie den braunen Umschlag längst aufgerissen und eine weiße Schokolade mit Orangenstückchen und eine schwarze mit Pfeffer herausgenommen hatte. Eigentlich als Finderlohn für diese Frau gedacht, sagte sie und brach die Riegel auseinander, ohne zuvor das Silberpapier abzuwickeln. Den Pass, so hat sie im Begleitbrief geschrieben, hat diese Frau zufällig im Seitenfach einer dunkelblauen Sporttasche gefunden, als sie in einem Charity Shop in Chelsea herumstöberte.
    Welche Frau?, fragte Hannes.
    Vera, sagte Karatsch.
    Was?, fragte Friedrich.
    Karatsch schob die Hände in die Hosentaschen, als könne er dort den weniger waghalsigen Anteil seiner Frau, der vielleicht noch zu ihm gehören mochte, in Sicherheit bringen. Noch immer war da dieses Stechen, das ihn enger und enger in den eigenen Käfig seiner Brust einschloss. Hatte er es wegen Vera an der Seele, wie andere Leute es am Herzen haben?
    Sie ist in London, sagte er.
    Friedrich öffnete das Fenster.
    Was machen wir jetzt?, fragte er.
    In der Nacht lag Karatsch wieder auf seinem Gästesofa.
    Diese Vera ist also Ihre Frau?, hatte Salomé Schreiner nach mehreren Erklärungsversuchen endlich verstanden. Karatsch hatte bei der Frage die mit Speichel eingedickte braune Masse in ihrer Mundhöhle gesehen. Hatte sich nicht mehr gewünscht, nach dieser Frau greifen zu können, sondern hatte sie gleich lieber zweimal loslassen wollen.
    Irgendwann war er eingeschlafen und träumte von einem grauen Wohnmobil, das er vor über zwanzig Jahren einmal gehabt hatte, als Jo noch nicht geboren war. Er fuhr damit herum, bis er eine von grauem Gras bewachsene Betonstraße gefunden hatte, mit niedrigen Häusern rechts und links. Er kannte die Straße, ohne sie zu kennen. Eine Straße wie für das Militär gemacht, an deren Ende, eingeklemmt zwischen den letzten Häusern, ein riesiger Tanker stand. Der Tanker versperrte Himmel und Horizont. Er fuhr mit seinem Wohnmobil darauf zu, und als er fast angekommen war, legte der Tanker ab. Er floh. Vor ihm? Durch die Lücke, die er zwischen den Häusern ließ, strömte das Meer ins Land.
    Der Tanker hatte sich wie ein riesiger Stöpsel aus seinem Leben gezogen.

 
    Friedrich
    1.
    Es klingelte. Er stand in weißer Unterwäsche und schwarzen Socken da und krampfte kurz die Zehen zusammen. Dann schob er ein altes Surfbrett beiseite und drückte auf den Summer. Ich bin’s, rief jemand zwei Stockwerke tiefer. Als er sich im Flur über das Geländer lehnte, sah er unten bei den Briefkästen Hannes’ Gesicht.
    Wohin mit dem Bier?
    Ins große Bad von Mutter Martha, leg die Flaschen in die Wanne.
    Und die Kiste Apfelsaft?
    Apfelsaft, sagte Friedrich, mir doch egal. Seine Stimme hallte wider. Es war kühl im Hausflur, am 12.   September. Heute war sein sechsundvierzigster Geburtstag. Aus dem ersten Stock kamen Klavierakkorde. Meret spielte wie immer und wie immer das Gleiche, wenn sie melancholischer Stimmung war.
    Verklärte Nacht von Schönberg, hatte sie Friedrich erklärt.
    Kenn ich nicht, aber spiel doch mal was Lustigeres.
    Lustig?
    Ja, was Erbauliches.
    Alles Erbauliche ist Teufelswerk, hatte Meret da gesagt. Er kannte sie so lange, schon sein Leben lang. Aber eigentlich kannte er sie gar nicht.
    An seinem vierzigsten Geburtstag hatte Meret vor allen Gästen ein Gedicht aufgesagt. Von Shakespeare. Wenn vierzig Winter deine Stirne drücken / Und tiefe Furchen deiner Schönheit ziehn / Sinkt deiner Jugend Kleid, von allen Blicken / Bewundert, heut zerfetzt und wertlos hin . Er hatte dazu gelächelt. Er war reich, und was war sie? Auch nicht mehr ganz jung. Am Ende hatte Meret sich vor einem Publikum, das voller Unverständnis zugehört hatte, verbeugt.

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