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Wünsche

Wünsche

Titel: Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Kuckart
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beginnt mit den frühen Jahren, sagte Karatsch und zeigte warnend auf einen Hundehaufen, in den Salomé fast getreten wäre. Damals hatten die Ostdeutschen im Ohr und im Gemüt noch den Nazi-Marsch, im Nacken den Stalin-Panzer, und über ihrem Alltagsgeschmack schwebte eine große, aber swinglose russische Seele.
    Salomé sah Karatsch erstaunt an, und er merkte, er zitierte sich selber. Ja, er konnte prächtig reden, wenn er nur wollte, und vor allem, wenn er gefallen wollte.
    Er schloss die Beifahrertür auf, und so zufällig wie immer lag ein Exemplar seines ersten Buches Freie Töne auf dem Rücksitz. Er holte es nach vorn und legte es auf die Plastiktüte in Salomés Schoß. Heute trug sie keine Flipflops, sondern Westernstiefel, Strumpfhosen und einen karierten kurzen Schottenrock. Eines Tages, sagte er, hat ein Freund von mir aus Ostberlin das Spreewald-Nest Peitz, das man eigentlich nur wegen der Karpfen kennt, zum Mekka der internationalen Jazzavantgarde ausgerufen und mich gebeten, die ganze Geschichte zu dokumentieren.
    Okay? Salomé Schreiner steckte das Buch in die Plastiktüte. Ich mag Jazz. Vor allem Miles Davis und so. Aber was war eigentlich mit der Mauer? Galt die für Jazz nicht?
    Musiker beider Teile durften reisen, sagte Karatsch, und ich war damals auch Musiker.
    Sie schlug mit dem Zeigefinger nach ihm.
    Schlagzeuger?
    Nein, Saxofon. Ich habe damals im Haus der jungen Talente gastiert.
    Okay, sie zog ein Lächeln mit den Lippen nach innen.
    Noch ohne Glatze, sagte er. Ihr Okay wiederholte sie in einem Ton, der schwankte zwischen Unverständnis, Mitgefühl und Wurstigkeit. Hatte sie beim ersten Treffen auch so oft okay gesagt? Wie alt mochte sie genau sein? Jünger als Vera jedenfalls, was ihn nicht davon abgehalten hatte, wegen der Verabredung ausgiebig zu duschen und Hannes und Friedrich anzuweisen, sein Haus spätestens um zehn wieder zu verlassen.
    Aber jetzt fahren wir noch ein wenig herum, oder?, fragte Salomé Schreiner.
    Aber ja, sagte Karatsch, obwohl er genau wusste, für dieses ziellose Herumfahren im Auto mit Frauen, die er nicht kannte, war er zu alt. Wartete sie trotzdem darauf, dass er in eine Waldschneise einbog, den Arm um sie legte und sie zu küssen versuchte? Er strich sich über den Schädel. Wenn er noch genug Haare gehabt hätte, er hätte sich jetzt gern gekämmt, um sich zu beruhigen. Sie ließ das Seitenfenster herunter. Feiner Regen sprühte ihr ins Gesicht, was sie nicht zu stören schien. Er ließ den Motor an.
    Ich habe nichts gegen solche Nächte, sagte sie, als sie eine geöffnete Schranke am Waldrand passierten, Hauptsache, man kann sich in ihnen bewegen, Hauptsache, man ist irgendwie schneller und stärker als sie.
    Karatsch schaute ins Tal linker Hand, auf die vielen Häuser, die im Lauf der vergangenen Jahrzehnte ziemlich planlos dort hingewürfelt worden waren.
    Was für ein Ort, sagte sie.
    Ja, sagte er, der Sohn weiß schon, warum er zur See fährt.
    Ihr Sohn fährt zu See?
    Ja.
    Okay.
    Aber er kommt nächste Woche zurück, sagte Karatsch und merkte, die Vorfreude auf den Sohn machte ihn plötzlich sicherer.
    Fahren wir noch zu mir?, fragte er.
    Bei Jos letztem Landgang hatten sie zum ersten Mal wieder lange telefoniert, aber nur wenige Sätze gewechselt. Bereits bei diesem Gespräch war der Sohn Karatsch verändert vorgekommen, und Karatsch hatte sich genauso übrig geblieben gefühlt wie an jenem Tag, als er den Sohn auf der Hiroshima abgeliefert hatte und danach in den überheizten Großraumwagen eines ICE gestiegen war, wo ihn ein Kegelclub von Frauen in Veras Alter immer wieder zu einem Becher Sekt eingeladen hatte. In dem Lärm der Frauen hatte sich die Stille, die zu Hause auf ihn wartete, bereits auf ihn gelegt. Das nächste Telefonat vom nächsten Hafen aus hatte Karatschs Ahnung bestätigt, so heftig, dass es schmerzte. Jo war kein Kind mehr. Der Sohn war jetzt ein junger Mann, der im üblichen Schichtsystem wie ein Erwachsener morgens vier Stunden und abends vier Stunden auf der Brücke stand, in der Zeit dazwischen das Schiff inspizierte und tapfer in alle möglichen dunklen Hohl- und Zwischenräume kroch, um Aggregate zu warten oder anderes technisches Zeug. In Karatschs Vorstellung fand diese Arbeit im Bauch des Schiffes inmitten einer bodenlosen Finsternis statt, während an Deck irgendwelche ausländischen Fahnen gespenstisch in einem schwarzen Wind flatterten. Hast du keine Angst?, hätte er den Sohn gern am Telefon gefragt. Stattdessen

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