Würfelwelt (German Edition)
niemandem etwas davon erzählen. Niemals!“, fleht sie. „Sonst ... sonst bringt er mich um!“
„Aber wir müssen doch etwas tun ...“
„Versprich es mir!“, fleht Amelie.
„Okay.“
„Danke!“ Sie weint wieder an meiner Schulter. „Danke, dass du mir zugehört hast!“
Ich streichele sanft ihren Rücken, drücke sie an mich. Ihre Schluchzer werden stärker, aber ich spüre, dass es Erleichterung ist, die sie weinen lässt.
Liebst du sie?
Ja, ich glaube, in diesem Moment habe ich mich in sie verliebt: als sie sich mir zum ersten Mal anvertraute. Seit sie mir von ihren Qualen erzählte, empfinde ich nicht mehr bloß Mitleid für sie. Wir sind jetzt verschworen. Wir teilen ein schreckliches Geheimnis. Ich werde für sie sterben, wenn es sein muss. Und ich weiß, dass sie dasselbe für mich tun würde. Wenn das keine Liebe ist, was dann?
Hat sie die Wahrheit gesagt?
Mir ist auf einmal klar, was mit der Frage gemeint ist: nicht die Beschreibung ihres Leidens oder die Feststellung, dass ihr Vater der Übeltäter ist. Es geht um ihre Antwort auf die allererste Frage, die ich ihr gestellt habe: Geht es dir gut?
Bitte lass mich allein, mir geht es gut, hat sie geantwortet. Sie ist eine schlechte Lügnerin.
Ich schalte Hebel 8 auf „Nein“.
Kennst du das Böse?
Ich denke an Amelies Schilderung. Ich höre das spöttische Lachen, als ich meine Anschuldigungen gegen ihn wiederhole. Ich spüre die Hand an meiner Kehle.
Ein Arzt, der das Vertrauen seiner Patienten ausnutzt, sie mit Medikamenten gefügig macht, um sie dann zu missbrauchen. Schlimmer geht es wohl nicht. Hebel 9 bleibt auf „Ja“.
Siehst du die Wahrheit?
Ich starre eine Weile auf das Schild. Ich weiß jetzt, warum ich im Krankenhaus liege. Aber ist das die Antwort auf die Frage?
Was sehe ich? Einen Raum aus groben Steinwürfeln, eine Menge Schilder und Hebel, eine verschlossene Tür. Das ist nicht die Wahrheit.
Ich schalte den Hebel auf „Ja.“
Der Raum verschwindet.
15.
Meine Mutter beugt sich über mich. Ihr Gesicht ist verschwommen, aber ich erkenne den Duft ihres Parfüms, der trotz meiner misslichen Lage ein Gefühl der Geborgenheit in mir auslöst.
„Marko, oh mein Marko!“, flüstert sie. Eine Träne tropft auf meine Wange. Ich spüre ein reflexartiges Zucken auf meiner Haut.
Meine Mutter reißt die Augen auf. Dann beugt sie sich vor. „Marko? Marko, kannst du mich hören?“
Ich will antworten, doch meine Kehle ist immer noch gelähmt. Ich versuche irgendeine Reaktion zu erzeugen, den Kopf zu bewegen, wenigstens einen Finger. Doch die Verbindungen zwischen meinem Verstand und meinen Muskeln sind gekappt. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr.
Ich nehme all meine Willenskraft zusammen und schaffe es, zu blinzeln.
„Marko!“ Die Stimme meiner Mutter klingt beinahe erschrocken. „Marko, wenn du mich hörst, blinzele bitte zweimal hintereinander.“
Ich schließe einmal kurz die Augen, dann noch einmal.
Sie stößt einen Schluchzer aus. Sie küsst mich, drückt mich. Dann springt sie auf. „Doktor!“, ruft sie. „Doktor Berkholm! Kommen Sie schnell!“ Sie läuft aus dem Raum.
Ich weiß nicht so recht, ob ich mich freuen soll. Was, wenn ich für immer in diesem Zustand bleibe, mich nur per Blinzeln mit meiner Umwelt verständigen kann? Was für eine schreckliche Vorstellung! Da ist mir die seltsame Welt, in der ich in meinem Traumzustand herumlaufe, schon lieber.
Die Würfelwelt. Ich erinnere mich jetzt, dass ich oft dort gewesen bin, lange, bevor ich in dieses Schlamassel geriet. Ich habe Höhlen erforscht, Monster verprügelt, Schlösser gebaut. Ich habe Abenteuer bestanden und Rätsel gelöst. Ich stand in einem Raum voller Hebel und habe die richtige Kombination gefunden, um die Metalltür zu öffnen. Endermen und Creeper haben mir keine Angst eingejagt. Es war schließlich bloß ein Spiel.
Es heißt Minecraft .
Ich erinnere mich an die vielen Let’s Play-Videos von Gronkh, die ich auf Youtube gesehen habe. Meine Mutter hat mir einmal dabei über die Schulter geschaut und bloß den Kopf geschüttelt. Sie hat nicht begriffen, warum ich diese Videos lieber mochte als die Cartoonserien im Fernsehen. „Was ist denn so interessant, jemand anderem dabei zuzusehen, wie er ein Computerspiel spielt?“, hat sie gefragt. Ich hab nicht einmal versucht, es ihr zu erklären. Sie hätte es sowieso nicht verstanden.
Die Würfelwelt wurde für mich wie ein zweites Zuhause, in dem ich unzählige Stunden
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