Würfelwelt (German Edition)
„Bitte lass mich allein“, antwortet sie. „Mir geht es gut.“
Sie ist keine besonders talentierte Lügnerin.
Ich stehe einen Moment unschlüssig da, während sie wieder den Blick auf ihre Füße richtet. Schließlich gehe ich davon.
„Na, muss ich jetzt eifersüchtig werden?“, fragt Bornemann, als wir in die Klasse zurückkehren.
Ich ignoriere ihn einfach.
In den Wochen danach nähere ich mich ihr immer wieder. Manchmal spreche ich sie an, dann wieder stelle ich mich einfach neben sie und schweige. Ich werde zum Gespött der ganzen Klasse, aber ich nehme das Getuschel kaum wahr.
Nein, ich bin nicht verliebt, was immer die anderen denken. Jedenfalls glaube ich das nicht – so richtig kenne ich mich mit meinen eigenen Gefühlen noch nicht aus. Liebe ist nicht der Grund dafür, dass ich mich ihr immer wieder nähere, da bin ich ziemlich sicher.
Ich spüre einfach, dass sie mich braucht, habe es vom ersten Moment an gefühlt. Unser kurzer Blickkontakt war wie ein Hilferuf. Sie will mir etwas sagen, aber sie kann nicht, darf nicht.
Ein paar Mal habe ich überlegt, ob ich zu unserer Klassenlehrerin gehen und sie um Hilfe bitten soll. Ich verstehe mich eigentlich gut mit ihr. Aber ich habe das Gefühl, als würde ich Amelies Vertrauen in mich verraten, wenn ich jemand anderem von meinem Verdacht erzähle.
Also warte ich geduldig, bis sie so weit ist.
An einem strahlenden Oktobertag stehe ich ungefähr anderthalb Meter neben ihr und starre auf den Schulhof, als ich ihre Stimme höre, kaum mehr als ein Flüstern: „Du darfst es niemandem sagen!“
Ich drehe mich zu ihr um. Sie starrt auf den Boden.
Ich gehe einen Schritt auf sie zu. „Okay, versprochen.“
„Er gibt mir Pillen. Wenn er herausfindet, dass ich sie nicht mehr nehme ...“
„Wer?“, frage ich.
„Mein ... mein Stiefvater.“
Die Glocke kündigt das Ende der Pause an. Aber das hier ist wichtiger als der Deutschunterricht. „Komm mit“, sage ich.
Ohne mich umzudrehen gehe ich durch das schmiedeeiserne Tor. Es ist uns streng untersagt, während der Schulzeit das Gelände zu verlassen, aber wir können auch nicht einfach auf dem Pausenhof bleiben, wenn der Unterricht begonnen hat.
Sie folgt mir.
Eine Weile wandern wir stumm durch das Wohngebiet, in dem die Schule liegt.
„Was für Pillen?“, frage ich.
„Beruhigungspillen“, antwortet sie. „Sie machen dich gefühllos, so als hättest du einen Körper aus Gummi. Dann ist dir alles egal.“
„Warum gibt er sie dir?“
„Damit ich ruhig bin. Damit ich ... mich nicht wehre.“
Ich bleibe stehen und starre sie an. „Damit du dich nicht wehrst? Wogegen?“
Sie antwortet nicht. Ihre Unterlippe zittert. Tränen rinnen über ihre Wangen.
Ich nehme sie in den Arm. Sie weint an meiner Schulter.
„Du ... du musst zur Polizei gehen!“, sage ich.
Es dauert einen Moment, bevor sie antwortet. „Die würden mir nicht glauben. Er ist Arzt. Er behauptet seit Jahren, dass ich schizophren bin und unter Halluzinationen leide. Er würde dafür sorgen, dass ich in eine Anstalt komme.“
„Und deine Mutter?“
Sie antwortet nicht. Ich warte, bis sie soweit ist.
Nach langer Zeit löst sie sich von mir. Ihre Tränen sind versiegt. „Er hat sie unter Kontrolle“, sagt sie. Ihre Stimme ist tonlos, als lese sie etwas aus einem langweiligen Buch vor.
Dann erzählt sie mir von der Hölle, durch die sie seit Jahren geht. Ihre Eltern haben sich getrennt, als sie sechs war. Ihre Mutter fiel danach in eine tiefe Depression. Sie ging zu ihrem Hausarzt, der ihr Pillen verschrieb. Er begann, Hausbesuche zu machen, kam immer öfter, bis auch Amelie klar war, dass seine Therapie aus mehr bestand als aus Medikamenten. Er war nett zu Amelie, wie ein Arzt zu Kindern nett ist. Sie mochte ihn nie besonders gern, aber ihre Mutter schien nach seinen Besuchen aufzublühen.
Irgendwann hat sie gemerkt, dass die gute Laune ihrer Mutter von den Tabletten kam, die er ihr gab, und dass ihre Depressionen umso schlimmer wurden, wenn die Wirkung nachließ.
Der Arzt kam immer häufiger, zog schließlich in ihre Wohnung.
Eines Tages, sie war damals neun, behauptete er, auch Amelie müsse Pillen nehmen. Sie wollte nicht, doch er zwang sie. Wenn sie dann in dieser merkwürdigen Stimmung war, in der ihr nichts weh tat und ihr alles egal war, wenn ihre Mutter längst schlief, betäubt von Medikamenten, machte er mit ihr, was er wollte.
Sie sagt mir nicht, was das war. Das muss sie auch nicht.
„Bitte, du darfst
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