Würfelwelt (German Edition)
verbrachte. Ich lernte neue Freunde kennen, mit denen ich mich auf Minecraft -Servern traf. Ich begann, selbst Adventure Maps zu entwerfen, die andere Spieler absolvieren mussten. Ich liebte dieses Spiel mehr als alle anderen, auch wenn die Würfelgrafik ein wenig grob und veraltet wirkt. Denn ich konnte mich in dieser Welt nicht nur bewegen, ich konnte sie verändern, sie nach meinen Wünschen gestalten. Diese grenzenlose kreative Freiheit war es, die mich am meisten faszinierte.
Es ist kein Wunder, dass ich mir meine Traumwelt nach diesem Vorbild geschaffen habe.
War es eine Schutzfunktion meines Unterbewusstseins, die dazu führte, dass mein Verstand in diesem Traum gefangen war? Oder hat das Zeug, das Amelies Stiefvater mir gespritzt hat, einen Teil meines Gehirns zerstört? Offenbar ist der Schaden nicht irreparabel, denn ich erlange allmählich einen Teil meines Gedächtnisses zurück.
Ich erinnere mich wieder, dass ich in einer kleinen Hütte war, in der drei Schilder hingen. Eines davon lautete: „Der Ausgang liegt im Nether.“ War das eine Botschaft meines eigenen Unterbewusstseins? War der Weg durch die Würfelwelt so etwas wie ein System-Reset meines Nervensystems?
Bin ich bereits am Ziel?
Nein, das bin ich nicht, wird mir klar. Noch lange nicht. Ich erinnere mich zwar wieder an vieles, aber ich kann mich nicht bewegen. Blinzeln mag ja als Kommunikationsform ausreichen, um zu signalisieren, dass man jemanden versteht. Aber wie soll ich meiner Mutter vermitteln, was geschah? Wie soll ich sie vor dem netten Doktor warnen, der sich doch so rührend um mein Wohlergehen sorgt?
Die Erkenntnis trifft mich wie der Schlag eines Enderman-Arms: Wenn er merkt, dass ich allmählich wieder aus dem Koma erwache, wird er mich umbringen! Irgendwann, wenn er allein mit mir ist, wird er mir ein Kissen aufs Gesicht drücken oder mir eine Überdosis von dem Zeug spritzen, mit dem er mich ins Koma versetzt hat. Es wird aussehen, als hätte ich es einfach nicht geschafft. Niemand wird ihn verdächtigen.
Noch schlimmer als mein eigener Tod wäre es, dass Amelie umso mehr unter ihm leiden würde.
Ich muss dem Mistkerl das Handwerk legen! Ich muss aufwachen! Und dazu muss ich den Weg weiter gehen, den mein Unterbewusstsein mir zeigt. Ich muss den Ausgang aus der Würfelwelt finden. Und zwar schnell.
Ich suche in mir nach dem Bild des Raums mit den Hebeln. Ich finde es, konzentriere mich darauf und fühle, wie ich wieder in den dunklen Schacht falle. Nur noch am Rand meines Bewusstseins bekomme ich mit, dass meine Mutter mit dem Arzt zurückkehrt.
Sie wird vergeblich auf eine zweite Reaktion von mir warten. Es tut mir leid, sie zu enttäuschen, aber es ist notwendig.
Ich stehe wieder in dem Raum mit den Hebeln. Die verdammte Metalltür ist immer noch zu, obwohl ich sicher bin, jetzt alle Hebel in die richtige Stellung gebracht zu haben.
Ich betrachte sie noch einmal:
Bist du in diesem Raum? Nein.
Warst du schon einmal hier? Ja.
Bist du allein? Ja.
Suchst du das Ende? Ja.
Hast du Angst vor dem Enderman? Nein.
Erinnerst du dich? Ja.
Liebst du sie? Ja.
Hat sie die Wahrheit gesagt? Nein.
Kennst du das Böse? Ja.
Siehst du die Wahrheit? Ja.
Was ist falsch, zum Kuckuck? Ich überlege, ob ich systematisch jeden Hebel noch einmal durchtesten soll, schrecke aber davor zurück. Die Schalter haben einen direkten Effekt auf meine Wahrnehmung der Welt gehabt. Es wäre denkbar, dass ich etwas beschädige, wenn ich die falschen Hebel umlege. Was zum Beispiel, wenn ich Frage 5 mit „Ja“ beantworte und dann auf einmal schreckliche Angst vor dem Enderman bekomme – Angst, die es mir unmöglich macht, meinen Weg zu beenden? Oder wenn ich Hebel 6 auf „Nein“ schalte und all meine mühsam zurückeroberten Erinnerungen wieder verliere?
Nein, Herumprobieren ist zu gefährlich. Ich muss das Problem durch Nachdenken lösen.
Vielleicht helfen mir ja meine Erinnerungen an etliche Spielstunden in der Minecraft -Welt.
Ich verstehe jetzt die Aufregung, die der eingebildete Gronkh empfand, als wir auf Dinge trafen, die nach den Regeln des Spiels unmöglich sind. Ob der Echte wohl ähnlich reagiert hätte? Ich werde es nie erfahren.
Mir kommt ein Satz in den Sinn, den Gronkh sagte, als wir die Endermen besiegt hatten und die Schatztruhe öffneten: „Lohenstaub. Das gefällt mir gar nicht!“
Ich hatte keine Ahnung, was Lohenstaub ist, und habe mich über seine negative Reaktion gewundert. Jetzt verstehe ich sie.
In
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