Würfelwelt (German Edition)
hört mich.
Ich sinke in einen dunklen Tunnel und bin wieder in der Würfelwelt. Die glühenden Augen des Enderman starren mich an. Er ist völlig reglos. Doch sobald ich meinen Blick abwende, wird er mich angreifen. Ich weiß, dass ich ihm nicht widerstehen kann. Er wird mich besiegen.
Er hat mich bereits besiegt.
Woher kommt dieser Gedanke? Ist da ein Fetzen der Erinnerung? Spüre ich eine Hand an meiner Kehle? Höre ich ein Flüstern in meinem Ohr: Wenn du dich bewegst oder einen Mucks machst, drücke ich deinen Kehlkopf ein und du stirbst ? Ist da plötzlich ein Stich in meiner Seite?
Mit der Erkenntnis kommt Wut. „Du warst es!“, stoße ich hervor. „Während ich auf dich eingeredet habe und du irgendwelche Ausflüchte vorbrachtest, hast du eine Spritze vorbereitet. Ich habe nicht darauf geachtet, war zu aufgewühlt. Du hast mich ausgelacht, meine Anschuldigungen als Hirngespinste bezeichnet. Dann warst du plötzlich hinter mir. Du hast mich überrumpelt, mir die Luft abgedrückt und mir irgendwas gespritzt. Ich habe weiche Knie bekommen und bin zu Boden gesackt. Ich habe noch gehört, wie du deine Assistentin um Hilfe gerufen hast.“
Der Enderman mustert mich reglos. Sein Schweigen wirkt auf mich wie ein Eingeständnis seiner Schuld.
„Du elender Mistkerl!“, brülle ich und schlage wie ein Berserker mit dem Schwert auf ihn ein.
Der Enderman wehrt sich nicht. Er steht bloß da und fixiert mich mit seinen leuchtenden Augen, die plötzlich ihre Macht über mich verloren haben. Jetzt ist er es, der sich fürchtet, das spüre ich. Ich weiß, dass die Wahrheit stärker ist als er, und er weiß es auch.
Ein letzter Hieb, und mein Feind verschwindet mit einem Plopp. Zurück bleibt nur eine Enderperle, die ich in mein Bewusstsein aufnehme.
Hebel 5 steht jetzt richtig: Nein, ich habe keine Angst mehr vor dem Enderman. Und ja, ich erinnere mich, was geschehen ist, bevor ich ins Koma fiel. Ich lege Hebel 6 nach oben.
Doch die Tür ist immer noch verschlossen.
Liebst du sie?
Ob auch dieser Hebel Auswirkungen auf meine Erinnerung hat? Ich probiere es aus, indem ich ihn auf Ja schalte.
Ich bin auf dem Schulhof. Sie steht auf der anderen Seite, allein. Ihre Schultern hängen herab, ihr Kopf ist leicht nach vorn geneigt, so dass ihre langen, dunklen Locken in ihr Gesicht fallen. Sie trägt Jeans, ein Sweatshirt und eine graue Jacke, als gäbe sie sich Mühe, besonders unauffällig zu sein.
Schon oft habe ich sie so stehen sehen. Sie ist jetzt fast ein Jahr auf der Schule, aber sie scheint immer noch keine Freundin zu haben. Immer wieder habe ich mir vorgenommen, sie anzusprechen, nach Worten gesucht, die nicht irgendwie peinlich sind. Bis jetzt sind mir keine eingefallen.
Bamm! Ein Ball trifft mich hart an der Schulter. Lautes Lachen.
Ich drehe mich um.
„Muss Liebe schön sein!“, ruft Philip Bornemann, der den Ball geworfen hat. Johlendes Gelächter der anderen, die ihr Fußballspiel meinetwegen unterbrochen haben. Er ist nun mal der Klassenclown. Manchmal sind seine Sprüche wirklich lustig, aber leider gehen sie immer auf Kosten irgendeines Mitschülers. Diesmal bin das dummerweise ich.
Ich darf jetzt auf keinen Fall den Fehler machen, mich zu verteidigen oder gar wütend zu reagieren. Also setze ich ein verzücktes Gesicht auf. „Hach, Borni, endlich hast du gemerkt, was ich für dich empfinde!“, säusele ich.
Ich gebe zu, es ist ein bisschen platt, aber es funktioniert. Grölendes Gelächter der anderen. Bornemann ist einen Moment verdutzt. Er ist es nicht gewohnt, dass seine Fans über die Witze eines anderen lachen, schon gar nicht, wenn er das Objekt des Humors ist. Aber auch er kennt die Spielregeln des Pausenhofs. „Lädst du mich nachher auf einen Kaffee ein, Süßer?“, fragt er.
„Klar, mein Sahnetörtchen!“
Damit ist unser Schlagabtausch beendet und Bornemann sucht sich ein leichteres Opfer.
Ich wende mich ab. Amelie hat den Kopf gehoben und sieht mich an. Hat sie mitbekommen, dass die Jungs mich ihretwegen verspottet haben?
Ihre Augen glitzern. Sie senkt den Blick wieder und starrt auf den Boden vor ihren Füßen.
Ich denke nicht lange nach. Mein Magen kribbelt, als ich auf sie zugehe. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll, also sage ich „Hi!“.
Sie antwortet nicht, steht nur da mit gesenktem Blick.
„Geht es ... dir gut?“, frage ich.
Sie hebt den Kopf. Ihre Augen sind leicht gerötet und glasig. Entweder ist sie krank, oder sie ist kurz davor, zu weinen.
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