Wuestenmond
euch!‹ Und die Kinder riefen: ›Wir sehen, wir sehen!‹ Und die Erwachsenen hörten die Kinder voller Begeisterung schreien und lachen. Sie liefen herbei und sahen alle Kinder am Boden liegen. Es gab natürlich Eltern, die mißtrauisch waren – wer konnte es ihnen verdenken? Einige hatten den Marabut predigen hören und fragten Olivia: ›Wo stehen diese Dinge im heiligen Buch?‹ Ja, für manche waren diese Dinge seltsam und ungewohnt. Die meisten jedoch waren bezaubert…«
Zara lachte jetzt, völlig in ihre Gedanken versunken. Ihr Lachen ging mir zu Herzen. Sie verdiente alle Freude und alles Glück dieses Lebens und nicht das armselige Dasein, das sie führte. Eine Fliege setzte sich auf ihren Daumennagel. Sie bemerkte es nicht. Elias lächelte jetzt auch.
»Ja, ich weiß. Ich lag auch im Sand und sah, daß die Erde rund ist.«
Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen neugierig an.
»Wie hast du das gesehen, Elias?«
»Wenn du flach liegst und zur Seite blickst, verwandelt eine optische Täuschung die Sandfläche in eine senkrecht steigende Wand. Eine gelbe Wand, die in der Luft hängt, von der Kraft der Gestirne gehalten. Das siehst du ganz genau, Großmutter.«
Sie schüttelte den Kopf, mit einem kleinen Geräusch, halb Seufzer, halb Auflachen.
»Ich bin zu alt, um das noch zu sehen. Aber Olivia hat es dir beigebracht, nicht wahr?«
Er nickte, und Zara sagte:
267
»Wie gut, daß sie den Kindern solche Dinge beibringt!«
»Andere Dinge auch«, sagte Elias. »Eine Menge anderer Dinge.«
»Ja«, murmelte Zara. »Es wird wieder wie früher sein…«
Es wird nie mehr wie früher sein, dachte ich schmerzlich. Mehr als dreißig Jahre waren vergangen. Die Kinder von heute spielten wohl wie die Kinder von damals; sie rannten übermütig herum, wie das Kinder eben tun, und verschwendeten keine Gedanken an den Himmel und die Welt. Den Kindern von damals hatte Olivia mehr beigebracht als nur Lesen und Schreiben. Und vielleicht hatte ihr neues Wissen sie mit wunderbarem Staunen erfüllt.
»Wann kommt Olivia?« fragte Zara.
»Bald«, sagte Elias.
Zara seufzte, tief und nachdenklich.
»Ich habe mir überlegt, daß sie vielleicht nicht kommen könnte, weil sie so lange krank war…«
»Nein«, sagte ich, »es geht ihr wieder gut. Deswegen bin ich hier«, setzte ich hinzu. »Elias und ich werden Amenena besuchen. Wir wollen ihr sagen, daß Olivia bald kommt.«
Zaras goldene Augen blinzelten.
»Das wird nicht nötig sein. Sie wird sie wohl gerufen haben.«
Ich starrte sie an. Elias rührte sich nicht. Unter der hochgeschlungenen Krone seines Schesch sah ich nur die glatte Stirn, den feuchten Schimmer seiner Augen.
»Wie meinst du das, Großmutter?«
Sie hob die Hand. Ihre Armreifen klingelten.
»Amenena ruft die Leute, hast du das nicht gewußt?«
Mein Hals war zugeschnürt. Ich dachte an meine Träume und auch an das, was Elias mir gesagt hatte.
»Doch. Irgendwie schon…«
Zara lachte leise auf, schlug nach der Fliege. Während ich sie ansah, konnte ich in ihr eine Spur meiner äußeren Erscheinung erkennen, oder zumindest eine Geste, eine bestimmte Klangfarbe der Stimme.
Ich war zutiefst erregt. Was ich in mir fühlte, dieses Vibrieren, dieses unsichtbare Band des Lichts, wie hätte ich ihm einen Namen geben können?
Inzwischen goß Matali den Tee aus der Kanne sprudelnd in die Gläser. Er bewegte sich schwerfällig über die gekreuzten Beine hinweg, reichte zuerst Zara, dann mir und schließlich Elias ein Glas.
Ich trank den süßen, schaumigen Tee, während Zara in Schweigen verfiel. Sie schien über etwas nachzudenken. Plötzlich belebte sich 268
ihr Gesicht. Sie ließ ein leises, bekümmertes Lachen hören.
»Mein Schädel ist wie eine Blechdose. Ich wollte dir etwas geben, Tamara. Schon beim letzten Mal, als du hier warst, habe ich daran gedacht. Aber dann… pfffft!, habe ich es vergessen!«
»Was ist es, Großmutter?« fragte ich zärtlich. »Es wird dir schon wieder einfallen.«
Sie legte den Finger zwischen ihre schwarzen geschwungenen Brauen.
»Warte. Laß mich nachdenken. Da ist eine Sache, die du haben sollst. Du mußt sie jetzt mitnehmen. Vielleicht bin ich beim nächsten Mal nicht mehr da, und dann weiß keiner…«
Sie schlürfte ihren Tee, wobei sie vor sich hin brummte. Ihr Gesicht lag grell im Licht. Ihre faltige Haut glich einem eng geknüpften Netz, in dessen Maschen sich ihre goldbraunen Augen verfangen hatten. Sie war bedeutend älter, als ich angenommen hatte,
Weitere Kostenlose Bücher