Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wuestenmond

Wuestenmond

Titel: Wuestenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
womöglich noch älter, als Olivia es ahnte. Die Tuareg früherer Generationen hatten vom Jahr ihrer Geburt nur ungenaue Vorstellungen.
    Auf einmal leuchtete Zaras Blick auf. Sie wandte sich an Elias, sprach zu ihm, so eindringlich und schnell, daß ich kein Wort verstand. Als ob sie befürchtete, das, was sie sagen wollte, in der nächsten Sekunde wieder zu vergessen. Elias erhob sich stumm und verschwand für kurze Zeit in einem Nebenraum. Dann kam er mit einem kleinen Beutel aus Leder zurück, nach Tuareg-Art mit einem Tenest – einem Schloß – versehen, eine wundervolle Arbeit aus Kupfer und Eisen. Er überreichte den Beutel Zara. Diese wählte mit zitternden Fingern einen Schlüssel aus dem Bund, der an einer Seite ihres Schleiers hing. Jede Geste drückte dringende Eile aus und wurde von einem Stirnrunzeln begleitet, das ihre Würde unterstrich und Ehrfurcht gebot. Eine Zeitlang nestelten ihre Hände an dem Schloß, bevor der Tenest in zwei Teile aufsprang. Zara wühlte ungeschickt in dem Beutel und brachte schließlich ein silbernes Brustgeschmeide hervor, das an einem geflochtenen Lederband befestigt war. Es war ein ungewöhnlicher, viereckiger Schmuck –
    ein Amulettbehälter von jener Sorte, die Terout genannt wird. Eine kleine Pyramide aus versteinertem Holz war genau in der Mitte von einem winzigen Silberkügelchen gekrönt. Mit einer Handbewegung deutete Zara mir an, den Kopf zu neigen, und legte mir den Schmuck um den Hals. Ich war überrascht, wie schwer er war.
    Er roch nach Holzkohle und süßlichen, leicht modrigen Essenzen, 269
    vielleicht Zaras Körpergeruch.
    »Dieser Terout gehörte meiner Großmutter«, sagte Zara. »Und vor ihr ihrer eigenen Großmutter. Er ist so alt, daß wir nicht wissen, wer ihn zuerst getragen hat.«
    Die schwere Silberplatte fühlte sich kühl an, aber sie nahm sofort die Wärme meiner Haut auf. Das fein eingravierte Muster war mehr als ein Ornament. Ich fragte Elias:
    »Was bedeutet dieser Schmuck?«
    »Heute«, sagte Elias, »reproduziert jeder Schmied den Terout dutzendweise für Touristen. Manche sind schön, dagegen ist nichts zu sagen, obwohl aus Kostengründen oft recht abenteuerliche Legierungen verwendet werden. Aber schaust du dir die Ornamente genauer an, wirst du feststellen, daß vieles nicht mehr stimmt. Früher gaben die Enaden – die Schmiede – die Geheimnisse der Urzeiten vom Vater auf den Sohn weiter. Amenena sagte mir, daß der Terout ursprünglich ein Kalender war.«
    »Unglaublich!« murmelte ich.
    Er nickte.
    »Noch heute werden die Bezeichnungen der Ornamente teilweise aus dem Vergleich mit ähnlichen Tierspuren gewählt: die Spur des Perlhuhns, die Spur der Gazelle, die Spur des Schakals. Dieses Motiv zeigt die Spur der Schlange.«
    Ein Frösteln überlief mich.
    »Was bedeutet das, Elias?«
    »Viele Dinge. In der Mitte des Vierecks erkennst du das Motiv der Sandale, Eratimen, die zugleich ›Mensch‹ und ›Zeltpfosten‹
    bedeutet. Daraus erhebt sich die schwarze Himmelspyramide. Rund um das zentrale Motiv führen die Spuren der Schlange. Die Schlange vermittelt zwischen Himmel und Erde. Jede Drehung ihres Körpers –
    der Augenblick also, in dem sie sich häutet – entspricht dem Ablauf der Zeit und leitet den kosmischen Frühling ein. Früher konnten alle Tuareg diese Symbole ›lesen‹. Aber heute nicht mehr.«
    Zara, die bisher geschwiegen hatte, brach plötzlich in helles Gelächter aus.
    »Es ist schon recht komisch, daß du mehr weißt als ich! Da bin ich überrumpelt, das muß ich schon sagen. Aber ich bin froh, daß du es weißt. Das Alter macht mich dumm. Na ja, ich bin bald fertig hier und lasse es dabei bewenden.«
    Sie nahm meine Hand und drückte sie liebevoll.
    »Elias wurde gut unterrichtet. Du kannst ihm vertrauen; er macht 270
    seine Sache nicht übel. Er wird dir vieles sagen. Der Terout ist ein großes Buch, verstehst du? Ein wichtiges Buch. Er gehört jetzt dir, und später wird er deiner Tochter gehören.«
    Es dunkelte bereits, als wir uns von Zara verabschiedeten. Langsam und nachdenklich wanderten wir durch verwinkelte Gassen. In der Ferne brauste der Verkehr. Vereinzelt blinkten Sterne am Himmel, während hinter den Bergkuppen ein purpurner Streifen verblaßte.
    »Warum hat sie den Schmuck eigentlich nicht dir gegeben?« fragte ich Elias.
    Er schüttelte belustigt den Kopf.
    »Ich bin nur ein Mann. Und sie hat sich damals von meinem Großvater getrennt, das hat sie dir doch erzählt, oder?«
    Ich

Weitere Kostenlose Bücher