Wuestenmond
seltsame, schwebende Gefühl. Was konnte dieser Traum bedeuten, wenn nicht das Aufleuchten der Erinnerung an ein früheres Leben, die in meinem Unterbewußtsein haftete? So seltsam dieser Gedanke auch sein mochte, ich hielt ihn nicht für unmöglich, sondern für wahrscheinlich.
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6. Kapitel
W ir bestiegen die Maschine der Air Algerie mit etwas gezwungener Fröhlichkeit. Algerien war kein Land, in das man unbeschwert reisen konnte. Noch vor einem Vierteljahrhundert war man gefahrlos mit dem Wagen von Algier nach Tarn gefahren. Heute konnte jede Straßensperre den Tod bedeuten. Jeden Tag, jede Nacht kam es zu Entführungen, Morden, Grausamkeiten. Aufgestachelte Fanatiker, mit Drogen vollgepumpt, verbreiteten Terror; keiner wußte, woher sie ihre Waffen hatten.
Bomben explodierten an Bushaltestellen, auf Marktplätzen und Friedhöfen, in einer endlosen Spirale des Schreckens. Der Reiseverkehr lag brach, die Ferienorte verkamen. Die algerischen Diplomaten in Paris spielten die Gefahr herunter. Sie beherrschten die Kunst der Leutseligkeit, hatten ein Lächeln, warmherzig und voller Entgegenkommen, das keine Pose war. Nun ja, es gab tatsächlich Gebiete, die man lieber meiden sollte. Aber nach den Wahlen würde sich die Lage beruhigen, und im Süden sei sowieso alles ruhig. Im Süden würden wir keinen Terroristen begegnen. Ob man uns an Ort und Stelle unterstützen würde? Aber sicher, aber selbstverständlich! Man würde ein Fax an Willaya – die Regionalverwaltung – von Tamanrasset schicken, und ihr unsere Ankunft mitteilen. Ein Geländefahrzeug mieten? Auch kein Problem. Ja, gewiß, die Wagen waren in gutem Zustand. Benzin war teuer, aber in jeder Oase zu haben. Die Botschaft stellte uns Empfehlungsschreiben aus, mit Dutzenden von Unterschriften und Stempeln versehen. Für die Einfuhr der Filmausrüstung wurde eine Liste angefertigt, zollamtlich genehmigt. Routine. Dafür war Enrique zuständig. Schließlich wurde es November, bis wir starten konnten.
November, der Monat der Sandstürme. Aber wir hatten keine Wahl.
Den Brief an Zara hatte ich nicht vergessen. Ob Aflane wohl noch in Haft war? Ich dachte oft an ihn, sah ihn jetzt deutlicher in meiner Erinnerung: ein hochgewachsener Mann, der mit unnachahmlicher Eleganz die Kleidung der Tuareg zu tragen verstand. Selbst bei uns zu Hause hatte ich ihn nie anders gesehen als in der Gandura, einer Art langes Übergewand, an beiden Seiten bis zu den Hüften geschlitzt. Aflane trug sie über einem langärmeligen europäischen Hemd. Dazu kam der Seruel, eine Pluderhose, die in weichen Falten über die Fußknöchel fiel. Die seitlichen Nähte waren mit einer 56
kordelartigen Zierstickerei versehen. Und schließlich der Schesch, ein leichtes, etwa sechs Meter langes Baumwolltuch. Aflanes gelenkige Finger banden und knüpften den Stoff, formten Falte um Falte zu einer wunderschön gerollten Krone. Das Ende des Scheschs bildete den Schleier, den die Tuareg Tagelmust nennen und mit dem die Männer ihr Gesicht verhüllen. Ich hatte Aflane nie anders gekleidet gesehen. Er wollte zeigen, daß er ein Targui war, sich als solcher fühlte und benahm. Aflane gefiel es, wenn die Leute ihn anstarrten. Und wenn wir mit ihm irgendein Restaurant aufsuchten, verstummten schlagartig alle Gespräche. Es war nicht nur Neugierde, es war mehr: eine Art Ehrfurcht. Ich bildete mir damals ein, daß es nur das Gewand war, welches das bewirkte. Heute, wo sich viele ähnlich gekleidete Afrikaner in Europa aufhalten, bin ich mir dessen nicht mehr sicher. Es war da noch etwas anderes gewesen, etwas, das sich kaum beschreiben ließ: als ob Aflane eine besondere Aura umgab, die jeder fühlen konnte.
Ich hatte daran denken müssen, als Olivia die Geschenke für Zara vor mir ausbreitete: zwei Schals aus transparentem Musselin, nachtblau und violett, beide mit Pailletten bestickt. Ein Parfüm auch, das nach Pfirsich duftete. Nicht irgendein Parfüm, nein, sondern eine erlesene Marke. Die Tuareg wissen, was Qualität ist, für billigen Ramsch haben sie nichts übrig. Dazu zwei Gläser Pulverkaffee und Aspirin, beides eine Mangelware in der Sahara.
Angeschnallt warteten wir im Flugzeug auf den Start. Den Fensterplatz hatte ich Serge überlassen. Natürlich saßen Thuy und Enrique zusammen; Rocco, der einzige von uns, der rauchte, saß ein paar Reihen weiter hinten. Unsere Geduld wurde lange auf die Probe gestellt. Das Warten brachte uns ins Schwitzen. Feuchte Hände, Pulsbeschleunigung, auch das
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