Wuestenmond
auszusprechen wagt, vertraut sie dem Imzad an, und das Instrument sagt es für sie. Ich hatte so viele Gefühle gleichzeitig. Wenn der Mensch sein innerstes Wesen durch Musik ausdrückt, entsteht eine mächtige Kraft. Bald spielte ich ganz leicht und ohne Anstrengung.
Ich glaube, das war die Zeit, in der ich die Verzweiflung überwand.
Es ist nicht wichtig, ob man mit Worten zu den Toten spricht oder durch Musik. Seitdem ist Chenani bei mir. Ich habe den Weg zu ihm gefunden. Ich werde hier nirgends einen Platz haben, immer dort bei ihm sein. Diese Gewißheit verscheucht jeden Schatten, jeden Schmerz.«
Sie lehnte sich zurück und blickte mich an. Selbstbewußt und etwas gönnerhaft.
»Ich kann auch lautlos spielen, nur im Kopf. Wirklich«, setzte sie hinzu.
Wie mochte sie früher gewesen sein? dachte ich. Auch so 49
weltfremd? Ich hatte sie eigentlich recht ausgeglichen in Erinnerung.
Aber Halbwüchsige bekommen oft nur mit, was sie mitbekommen wollen. Halbwüchsige reden mit der Freundin, nicht mit der Mutter.
Und hätte sie mir überhaupt zugehört?
Was meinen Vater betraf, so lag die Erinnerung an ihn hinter Nebeln, seit ich denken konnte, jahrein und jahraus. Meine Mutter hatte selten Fotos gemacht; die wenigen Aufnahmen, die es von Vater gab, waren von Freunden geknipst worden. Ich hatte sie gesehen, als ich klein war, und später, als die Kluft größer wurde, nie mehr betrachtet.
»Hast du noch Aufnahmen von ihm, Olivia?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, wo sie sind.«
Du lügst, Olivia, dachte ich. Warum lügst du mich an?
Der Wein schmeckte nach Kork, aber er baute Hemmungen ab. Ich wandte mich den naheliegenden Dingen zu. Ob sie jemals Liebhaber gehabt hätte, wollte ich wissen. Zu meinem Erstaunen nahm sie mir die Frage nicht übel.
»Es kam vor. Aber jetzt nicht mehr. Der Körper beansprucht sein Recht, solange er jung ist. Ich habe nicht wie eine Nonne gelebt, wenn es das ist, was du wissen willst.«
In diesen Dingen war sie also ganz normal. Zum Glück, würde ich sagen. Doch sie sprach weiter.
»Jetzt bleiben mir noch zehn Jahre. Ungefähr. Und die gehen schnell vorbei.«
Ich starrte sie an. Sie hielt ihr Gesicht ein wenig von mir abgewandt, und ich fühlte mich verunsichert.
»Wie meinst du das?«
»Es ist bald soweit«, sagte sie leichthin. »Ich sehe ihn wieder. Meine Mutter ist auch mit siebzig gestorben.«
Ich spürte am ganzen Körper eine Gänsehaut.
»So darfst du nicht reden, Olivia!«
Sie bedachte mich mit einem langen, kühlen Blick.
»Nein?«
Sonderbar, ich kam nicht an sie heran. Immer war es, als beobachtete sie mich aus einer Entfernung, wie aus einem fremden Land. Selbst wenn ich sie dazu brachte, etwas von ihren Gedanken preiszugeben, blieb sie mir fern. Sie lebte in einer anderen Welt.
»Ich möchte wirklich gerne wissen, warum du solche Dinge sagst!«
Vielleicht war es eine schlechte Angewohnheit von mir, daß ich sie 50
immer wieder mit Fragen bestürmte. Aber ich haßte es, etwas nicht zu begreifen. Taktlos und schwierig war ich schon als Kind gewesen; mein Beruf hatte die Sache nicht besser gemacht.
Doch sie erwiderte ganz ruhig.
»Die Tuareg nennen die Toten ›jene, die nie mehr zurückkommen‹.
Wir sind es also, die zu ihnen gehen müssen.«
Sprüche, Olivia! Worte! Vielleicht erwachte sie eines Tages, kam zu sich, konfrontierte sich mit ihrem Trauma, dem sie jahrzehntelang erlegen war.
»Ich meine, du hast noch viel Zeit vor dir. Und außerdem«, ich stand ziemlich ungehalten auf und holte eine Flasche Mineralwasser, »das Gerede kannst du dir sparen. Klar kommen die Toten nicht zurück, es sei denn, aus Hollywoods Horrorkiste.«
»Warum fragst du mich denn?«
»Weil ich mehr über die Tuareg wissen möchte.«
Ihre Miene entspannte sich. Sie warf mir einen amüsierten Blick zu, wahrscheinlich wegen meines Tonfalls.
»Sie sind gewissermaßen lebende Fossilien. Auch wenn ihre Sprache und manche ihrer Bräuche auf eine Verwandtschaft mit der Kultur der Berber hindeuten. Diese Einflüsse wurden erst viel später wirksam.«
»Was sind denn die Tuareg?«
»Sie sind ein Symbol des Ungreifbaren, der Vieldeutigkeit der Geschichte selbst.«
»Das sagt mir nicht viel, Olivia.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist wirklich schwierig, weißt du. Nichts wurde überliefert, außer Mythen und Legenden, die phantastische Vermutungen geradezu herausfordern. Sagen entstehen nicht einfach spontan. Sie sind ein Mittel der Verständigung
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