Wuestenmond
weg…«
Elias holte tief Luft, sprach leise und grimmig weiter.
»Sie hatten alle erdenklichen Methoden angewandt; einige kannte ich schon, die meisten nicht. Sie hatten viel Zeit mit ihm verloren.
An der Art, wie sie ihn zugerichtet hatten, war mir klar, daß sie nichts aus ihm herausgeholt hatten, kein Geständnis, vermutlich nicht einmal ein Wort. Tuareg sind zäh, wenn es drauf ankommt.
Raschid war kreidebleich; er keuchte und würgte, Tränen standen in seinen Augen. Ich sagte zu ihm: ›Hau ab!‹ Zuerst wollte er nicht; 163
dann drehte er sich um, wankte wie ein Betrunkener zu seinem Auto.
Ich hörte das Schließen der Tür, der Motor wurde angelassen, der Peugeot fuhr davon. Ich rief die Totengräber und befahl ihnen, den Verstorbenen auf seiner rechten Seite in das Grab zu legen, damit sein Antlitz nach Osten blickte. Sie taten, was ich verlangte, und schaufelten das Grab zu. Ich gab ihnen ein paar Geldstücke und schickte sie weg. Als ich allein war, suchte ich einen Oleanderbusch und schnitt einen großen Zweig ab, den ich halb von seinen Blättern befreite. Dann riß ich einen Stoffstreifen von meinem Schesch. Ich befestigte den Stoff an dem Zweig und trieb ihn am Kopfende des Grabes in den Sand.«
»Was bedeutet das, Elias?«
Er hatte sein Gesicht dem Mond zugewandt, der sich in seinen Augen spiegelte. Sein Körper war völlig reglos. Langsam kehrte sein Blick zu mir zurück.
»Mein Vater lag auf einem Friedhof der Muslime, aber wir haben eigene Riten; sie sind uralt. Der Oleander mit seiner starken Lebenskraft ist ein Vermittler zwischen Diesseits und Jenseits; er hilft dem Verstorbenen, seine Seele zu entfalten wie eine Knospe, ein ›Wesen aus dem Nichts‹ zu werden, ein Geist, der den Trauernden Frieden schenkt.
Der Friedhof lag an einem Hang, direkt dem Wind ausgesetzt, die Grabsteine schon halb verfallen. Ein Kleid aus Elend für die Toten.
Jeden Tag wehte der Wind etwas mehr von dem Boden fort, und der Staub der Toten näherte sich immer mehr der freien Luft, dem Himmel, was immerhin ein Trost war. Ich setzte mich neben das Grab und blieb den Nachmittag dort, den Abend und die ganze Nacht. Es war sehr merkwürdig, ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, ich schlief und war doch hellwach. Ich sprach zu meinem Vater, sagte ihm, daß ich stolz auf ihn war und daß ich an seiner Stelle hätte leiden und sterben wollen. Wenn Menschen trauern, nähert sich der Geist des Verstorbenen; er kann mit den Trauernden sprechen.«
Ich nickte. Ich dachte an Olivia, wie sie damals auf Chenanis Grab lag. Und auch daran, wie Aflane sich ihrer angenommen hatte, mit soviel Zärtlichkeit und Verstehen. Elias sprach weiter; seine Stimme war kehlig.
»Als es hell wurde, bewegte sich etwas auf dem Grab: Ich sah, daß es eine Eidechse war. Aber ich wunderte mich, daß sie zu mir kam, weil sie gewöhnlich nur den Frauen erscheint. Ein Geist kann in eine 164
Eidechse schlüpfen und zu ihr sprechen, hast du das gewußt? Ich glaube, mein Vater machte sich große Sorgen um mich. Ich wußte nicht, was ich zu erwarten hatte. Die Eidechse sah mich an; ich brachte mein Gesicht ganz dicht in ihre Nähe, ich sah das winzige Herz in den Flanken klopfen. Und plötzlich war mir, als ob ich eine Stimme hörte. Ich weiß nicht, wessen Stimme es war. Vielleicht war ich es, der träumte oder laut dachte: ›Was verlierst du deine Zeit auf diesem Friedhof? Geh, du hast Besseres zu tun. Deine Mutter wartet.
Du wirst hart arbeiten müssen, aber das ist gut für dich. Das Leben eines Menschen ist kurz. Sieh zu, daß deines etwas wert ist.‹ Und im selben Atemzug glitt die Eidechse an meinem Gesicht vorbei und war weg.
Der Tag brach an, ich fror. Taumelnd stand ich auf.
›Ich danke dir, Vater. Ich sage dir jetzt Lebewohl. Wir werden uns Wiedersehen.‹
Ich wischte mir den Schmutz von den Kleidern und ging. Diese Nacht hatte mich auf eine Art und Weise verändert, die ich noch nicht ermessen konnte. Es war so einfach, und doch so kompliziert, daß ich gar nicht versuchte, es in Worte zu fassen, ja nicht einmal, darüber nachzudenken. Eine starke innere Unruhe trieb mich in die Wüste zurück. Ich fuhr nach Blida und holte meine Sachen. ›Du bist wirklich krank, nicht zu retten‹, sagte Raschid kopfschüttelnd. Noch am gleichen Tag fand ich einen Lastwagen, mit dem ich zurück nach Tarn fahren konnte. Unterwegs hatte ich Zeit zu überlegen. Ich dachte an Zara und legte mir eine Geschichte zurecht, um ihr den größten
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