Wuestenmond
Gleichgewicht automatisch veränderte. Häufig mußte ich den Kopf beugen, ein paarmal stieß ich mit Ellbogen oder Knien an die Felsen und fluchte. Endlich erreichte ich die Stelle, wo Elias auf mich wartete. Ich gelangte bis zur Höhe seines Gesichtes; seine Hand streckte er aus, um mich zu halten.
»Das war nicht so schlimm«, sagte ich.
Meine Stimme hallte merkwürdig hohl. Ich hatte eine kühlere Dunkelheit erwartet, nicht diese schwüle Luft. Irgendwo in der Ferne war ein Geräusch, aber so leise, daß ich für den Bruchteil einer Sekunde zweifelte, ob ich überhaupt etwas gehört hatte. Ich lauschte.
Was mochte das sein? Eine Sinnestäuschung?
»Wasser«, sagte Elias. »Es sickert tropfenweise. Noch vor fünfzig 182
Jahren watete man hier knöcheltief. Dann ging das Wasser zurück, hinterließ nur noch Pfützen. Und jetzt ist es fast ganz ausgetrocknet.«
»Woher kommt es?«
»Von einem unterirdischen See. Er liegt bei Arak, sechshundert Kilometer nördlich von hier. Wie groß er ist, weiß keiner. Er mag für ein paar Jahrhunderte versiegen – und taucht zwischendurch wieder auf. An manchen Stellen liegt er dicht unter der Sandoberfläche.
Man braucht nur zu graben, und das Wasser schießt unter artesischem Druck aus dem Boden. Früher hütete man diese Brunnen wie ein Geheimnis, stellte Wachen auf, damit Feinde sie nicht entdeckten. Das Wasser schmeckt leicht nach Salz, man muß es abkochen. Ursprünglich war es Meerwasser.«
Unglaublich, dachte ich staunend, unglaublich. Elias sprach weiter:
»Das Wasser fließt unter der Erde, wie das Blut unter der Haut. Die Pfade der Karawane folgen genau den Adern. Jetzt trocknet der Boden aus. Der See schrumpft, die Brunnen versiegen. Bei Regen steigt der Grundwasserspiegel, aber nicht genug.«
»Und die Felsbilder?« fragte ich.
»Du wirst sie gleich sehen.«
Wir kletterten gemeinsam einige Meter abwärts. In dem Schacht war es so still, daß sogar unsere Atemzüge von den Wänden widerhallten und als schwaches Echo zurückgeworfen wurden. Ich fühlte, daß ich innerlich zitterte. Endlich berührten unsere Füße den Boden. Wir standen in einer gewölbten Nische, die die Erosion in den Sandstein gegraben hatte. Hier war die Dunkelheit feucht und stickig; der Scheinwerfer flutete Licht als schwachen, flimmernden Nebel herab.
Elias berührte mich an der Schulter und wies auf die Stelle, die der Lichtfleck anstrahlte. Ich spähte in das Helldunkel und sah zwei Figuren, die als Relief überlebensgroß in den Stein gemeißelt waren.
Mein Kopf reichte nicht höher als bis zu ihren Schultern. Man mußte sie genau betrachten, um die Gestalten zu erkennen, die beinahe mit dem Hintergrund aus roten, gelben und braunen Schattierungen verschmolzen. Doch als ich mich bewegte, tauchten sie aus dem Licht auf und zeigten sich deutlicher. Beide streckten die Arme hoch, als ob sie beteten. Frauen oder Männer? Es war nicht zu erkennen; Kopf und Oberkörper waren mit einer schwarzen Schicht überzogen, als hätte jemand versucht, sie aus dem Stein zu kratzen. Ich trat näher, berührte die Kruste und roch an meinem Finger: Holzkohle.
Verwundert sah ich Elias an.
»Waren Leute hier?«
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Er nickte.
»Um die Jahrhundertwende, bei den Kämpfen gegen die Franzosen.
Und auch kürzlich wieder, als wir die Rebellen in der Sahelzone unterstützten. Die Männer versteckten hier ihre Waffen.«
»Warum haben sie die Figuren geschwärzt?«
»Schwarz ist die Farbe der Tarnung. Und gleichzeitig auch die Farbe der Lebenskraft. Schwarz symbolisiert Blut und Feuer. Wenn man den Farben ein eigenes Wesen zuspricht, ist das wie mit den Worten: Sie entfalten Kraft, werden lebendig und wirken in uns. Auf der ganzen Welt findest du das.«
»Imitative Magie«, sagte ich.
»Richtig. Die Kämpfer wollten mehr Stärke gewinnen; und in solchen Figuren steckt eine besondere Kraft. Es gibt Lieder, die diese Kraft herbeiholen können. Wenn Männer die Steine zu Schutzgöttern machen, verbrennen sie Oleander und formen die Glut zu einer Sichel, das Zeichen der Mondgöttin Tanit. Die Muslime haben die Sichel Allah zugeschrieben. Na gut, die Männer warten, bis die Holzkohle zerfällt und die Glut erloschen ist. Dann nehmen sie die heiße Asche mit bloßen Händen auf und pressen sie auf die Bilder.
Der Moment ist überaus wichtig: Jeder kann sehen, wie die Kraft als Funken aus dem Stein kommt und in die Handflächen dringt. Die Männer reiben ihre Gesichter und den ganzen Körper damit ein.
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