Wuestentochter
immer neutral bleiben, und Glück und Weisheit haben dies bislang auch immer möglich gemacht.«
»Bislang?«, wiederholte Khalidah argwöhnisch.
»Bis jetzt«, stimmte er zu. »Denn jetzt sind die Franken gekommen - vom Westen, über das Meer, und sie haben Städte in Blut ertränkt und die einheimischen Stämme unterjocht - und der kurdische Prinz zieht eine Armee gegen sie zusammen.«
»Die Dschinn halten die Franken für die zurückgekehrten bösen Geister«, folgerte Khalidah langsam, »und Saladin für den Messias.« Sie musterte Tor Gul Khan eindringlich. »Aber du bist anderer Meinung.«
»In jeder Generation gibt es eine Personifizierung des Bösen und einen Gegner, der es bekämpft.« Tor Gul Khan schien seine Worte mit äußerster Sorgfalt zu wählen. »Manchmal bleibt es bei kleineren Kämpfen, deren Schurken und Helden bald wieder vergessen sind. Aber ab und an steckt ein Mann andere mit seinen leidenschaftlichen Überzeugungen an, so wie Moses, als er sein Volk aus der ägyptischen Sklaverei befreite oder Jesus, der sich gegen die Mächtigen von Rom stellte. Als Mann, der sich dem Kampf gegen das Böse verschrieben hat, ehre ich die Ideale solcher Menschen und die Opfer, die andere dafür bringen. Aber als Stammesführer muss ich immer und zuerst zum Wohle meines Volkes handeln, und mein Volk ist gerade jetzt so verwundbar wie nie zuvor. Die Dschinn wissen, dass ich alt werde und keinen Erben habe, der einst meinen Platz einnehmen kann, und sie wissen auch, warum.«
Jetzt endlich fügten sich die Teile des Puzzles zu einem Gesamtbild zusammen. »Brekhna glaubte daran«, gab Khalidah bedächtig zurück. »Meine Mutter verließ Qaf, um gegen die Franken zu kämpfen, weil sie an den Mythos von dem zurückgekehrten Mobarak Khan glaubte.«
Tor Gul Khan erstarrte, und sie begriff, dass sie seinen wundesten Punkt getroffen hatte. Aber als er antwortete, klang seine Stimme nicht ärgerlich, sondern nur müde und unendlich traurig. »Sie ist ihm begegnet, musst du wissen - sie hat Saladin getroffen. Vor langer Zeit, als er noch kein Sultan war, sondern wenig mehr als der Lakai seines Bruders Shirkuh. Sie kämpften gemeinsam gegen ein paar kleinere aufständische Stämme, und sie fanden Gefallen aneinander, so unwahrscheinlich das auch klingt. Er infizierte sie mit seinen Träumen von einer vollständigen Vernichtung der Franken - und mit der Furcht vor dem, was geschehen könnte, wenn ihm dies nicht gelingen würde. Er bat sie, ihm ihre Dschinn-Krieger zur Verfügung zu stellen, wenn er ihrer bedürfen würde. Brekhna kam nach Qaf zurück und flehte mich an, sie ihre Anhänger gen Westen führen zu lassen.«
»Und du hast dich geweigert«, vermutete Khalidah.
»Was hätte ich denn sonst tun sollen?« Tiefe Verzweiflung schwang in Tor Gul Khans Stimme mit. »Du bist jung, Khalidah, so wie es Brekhna war, als sie die Franken zum ersten Mal sah. Ich weiß, dass sie dir als Verkörperung des Bösen erscheinen müssen, und sie haben in der Tat großes Leid über unser Land gebracht. Aber sind sie wirklich eine Armee böser Geister, die unseren Kontinent bedrohen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe das Böse in vieler Form bekämpft, und ich sage dir, dass die Franken zwar grausam vorgehen, aber auch nicht grausamer als andere von Machtgier beherrschte Menschen. Und was noch wichtiger ist - sie sind nicht stark genug, um sich immer weiter im Osten auszubreiten, und sie haben auch gar nicht die Absicht, dies zu tun, denke ich.«
»Aber sie könnten ihre Meinung ändern«, gab Khalidah zu bedenken. »Wenn sie glauben, ihr Gott würde es von ihnen verlangen, würden sie ebenso erbarmungslos von Al-Quds aus nach Qaf marschieren, wie sie vor hundert Jahren von ihrer Heimat nach Al-Quds marschiert sind.«
»So hat auch Brekhna argumentiert«, erwiderte ihr Großvater. »Und ich fürchte, dadurch hat sie unseren Untergang besiegelt.«
»Wie das?«
»Weil zwar einige Dschinn Brekhna dafür verurteilen, dass sie uns verlassen hat, aber weit mehr sie bis heute verehren.«
»Weswegen?«, fragte Khalidah bitter. »Weil sie fortgelaufen ist und einen Außenseiter geheiratet hat? Und dann ihr einziges Kind im Stich gelassen hat?«
»Sie sehen die Dinge nicht so wie du und ich«, versetzte Tor Gul Khan ruhig. Khalidah las in seinen Augen den Wunsch, Trost zu spenden und Trost zu empfangen, wusste aber nicht, wie sie damit umgehen sollte. »Alle Legenden gleichen sich in gewisser Hinsicht - sie sind auf einigen
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