Wuestentochter
Tor Gul Khan weitersprach.
»Prophezeiungen sind nie so klar und eindeutig, wie man es gerne hätte«, sagte er endlich. »Mobarak Khans Geist hatte Pamir zum Beispiel gesagt, er würde als Mitglied eines bedeutenden Stammes von lokalem Adel wiedergeboren werden und sich als Anführer erst beweisen müssen. Er würde das Kind einer neuen Religion und Verfechter ihrer Tugenden sein, dabei aber zugleich die alten Lehren ehren. Pamir konnte auch weder vorhersagen, wann und wo diese Wiedergeburt erfolgen, noch, ob Mobarak Khan in Gestalt eines Mannes oder einer Frau auf die Erde zurückkehren würde.«
Khalidah sog zischend den Atem ein und stieß ihn wieder aus. »Bitte erzähl mir jetzt nicht, dass du mich für Mobarak Khans Reinkarnation hältst.«
Tor Gul Khan sah seine Enkelin an. Zu ihrer Verwirrung spielte ein Lächeln um seine Lippen. »Nein, Khalidah, das tue ich nicht.« Bei diesen Worten durchzuckte sie ein unerwarteter Stich der Enttäuschung. »Ich fürchte, die Bedeutung dieser Geschichte - und deine Rolle darin - ist wesentlich komplizierter. Jede Religion steckt voller Widersprüche, wie du selbst am besten wissen wirst. Nimm Jesus als Beispiel: Sowohl dein Volk als auch die Christen und Juden glauben, dass er einst auf dieser Erde wandelte und den Menschen eine wichtige Botschaft brachte. Aber je nach Sichtweise galt er als Prophet, als Irrsinniger, als Ketzer oder als Gott. Mir bleibt es unbegreiflich, wieso wegen dieser Frage so viel Blut vergossen werden konnte, denn letztendlich war er doch nur eines - ein Mann, der Liebe und Güte predigte. Doch für die Menschen, die um die Herrschaft über Al-Quds ringen, geht es nicht nur um Leben oder Tod, sondern auch um Erlösung oder Verdammnis.
Und dann nimm den Islam. Ihr alle betrachtet Mohammed als seine Galionsfigur, aber seit dem Moment seines Todes entzweit euch die Frage seiner Nachfolge, und wieder musste deshalb Blut fließen.« Wieder seufzte er. »Nun, unsere eigene Religion bildet leider auch keine Ausnahme. Wenn du an ihrer Oberfläche kratzt, wirst du feststellen, dass sie ebenso umstritten ist wie das Christentum oder der Islam. Seit Pamirs Vision konnten die Dschinn sich nicht einig werden, ob der Schaf hirte nun ein Prophet oder ein vor Kummer über den Tod seines geliebten Stammesführers um den Verstand gebrachter Narr war. Einige von uns - unter anderem Abi Gul und ihre Familie - halten Mobarak Khan für einen Messias, der eines Tages zu uns zurückkehren und uns in den Kampf führen wird. Andere glauben, dass er nur ein Mann war - ein Mann, der unter dem Schutz der Götter stand und in dessen Adern vielleicht sogar göttliches Blut floss, nichtsdestotrotz aber ebenso ein Mensch aus Fleisch und Blut wie wir und somit sterblich.
Wäre mit Pamirs Prophezeiung alles zu Ende gewesen, wäre diese Kluft vielleicht überwunden worden, und beide Parteien hätten sich im Laufe der Zeit wieder angenähert. Aber unglücklicherweise kam es anders. Siehst du, Khalidah, wir verbrennen oder begraben unsere Toten nicht, sondern bringen sie in hölzernen Särgen zu den Friedhöfen in den Hügeln hinauf und überlassen sie dort den Elementen. Wir glauben, dass der Körper auf diese Weise am schnellsten zu seinem Ursprung zurückkehren kann. Das bedeutet allerdings auch, dass die Gräber Angriffen von Tieren oder Räubern ausgesetzt sind. Am Tag nach Mobarak Khans Beisetzung ging eine von seiner Gemahlin angeführte Gruppe von Frauen zu seinem Grab, um Brot daraufzulegen - eine unserer Sitten, ein Opfer für die Götter -, und als sie dort ankamen, fanden sie den Sarg leer. Der Deckel war abgenommen worden, und es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass jemals ein Leichnam darin gelegen hatte.«
»Wie bei Jesus«, murmelte Khalidah.
Tor Gul Khan warf ihr einen scharfen Blick zu. »Es gab eine ganze Reihe logischer Erklärungen dafür, aber für diejenigen, die sich verzweifelt an die Überzeugung klammerten, dass er uns nie wirklich verlassen hatte, war es ein Beweis dafür, dass die Götter Mobarak Khans Körper an sich genommen hatten und er in dunklen Zeiten zu uns zurückkehren würde, wie Pamir es vorhergesagt hatte. Seitdem sind wir in zwei Glaubenslager gespalten, aber es ist uns gelungen, mit unseren unterschiedlichen Ansichten zu leben. Deshalb ist die Person des Khans auch für den Stamm so wichtig: Seine vorrangigste Aufgabe besteht darin, den Frieden zu bewahren. Aus diesem Grund muss er ungeachtet seiner persönlichen Überzeugungen
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