Wuestentochter
Guy fehlte, hatten sich die meisten der einflussreichsten Edelleute des Reiches eingefunden, dazu zahlreiche Priester, Mönche und Ritter der heiligen Orden. In der Mitte wehte das Banner des Patriarchen von Jerusalem: eine unmissverständliche Herausforderung. Doch selbst die Gegenwart des Patriarchen war nicht so überraschend wie die des Mannes an der Spitze der Kolonne - Gérard de Ridefort. Tripolis’ Verwunderung rührte nicht daher, dass de Ridefort bei seinem letzten Besuch geschworen hatte, nie wieder einen Fuß über diese Schwelle zu setzen - der Templergroßmeister war nicht der Mann, der sich die Unterjochung eines alten Feindes entgehen ließ - er konnte vielmehr nicht glauben, dass die anderen Edelleute ihm seinen Verrat bei Cresson verziehen hatten. Kopfschüttelnd beobachtete der Graf, wie sein Wachposten das Tor öffnete und de Ridefort mit einem Ausdruck überheblichen Triumphes auf dem Gesicht in den Hof ritt. Tripolis sah einen Moment lang auf ihn hinunter, dann wandte er sich ab, um sich für das Unausweichliche zu wappnen.
Als de Ridefort und sein Gefolge die große Halle betraten, fanden sie den Grafen am Kopfende seines Banketttisches vor. Er trug einen Ausdruck ruhiger Gelassenheit zur Schau. De Ridefort musterte ihn scharf; hielt nach Anzeichen von Scham oder Reue oder wenigstens einem Riss in der glatten Fassade Ausschau. Aber mit fünfundvierzig Jahren - einem Alter, das in diesem rauen, von ständigen Kämpfen erschütterten Land ohnehin nicht viele Männer erreichten - war der Graf noch immer muskulös und geschmeidig und hielt sich sehr gerade. Sein Bart wies kaum Spuren von Grau auf, in seinen dunklen Augen funkelte eine wache Intelligenz, und die dunkle Haut, deretwegen er oft für einen Araber gehalten wurde, war eher von Weisheit als vom Alter gezeichnet.
Seinen schwelenden Zorn mühsam bezähmend schritt de Ridefort auf den Tisch zu. Tripolis bedeutete den Edelleuten, Platz zu nehmen. Sein Blick schweifte wachsam über sie hinweg. Früher hätte de Ridefort vermutet, er würde darauf warten, dass einer von ihnen das Schweigen brach. Aus Erfahrung jedoch wusste er, dass Tripolis auf diese Weise nur ihr Unbehagen schüren wollte, bevor er selbst das Wort ergriff.
»Es ist sehr gütig von Euch, meinetwegen eine so weite Reise auf Euch zu nehmen«, sagte der Graf endlich. »Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs?«
»Ihr wisst sehr gut, weshalb wir hier sind«, versetzte de Ridefort barsch, ehe ihm jemand zuvorkommen konnte. Tripolis’ Kopf fuhr in die Höhe, und er schnalzte mit der Zunge: eine arabische Geste der Verneinung, die de Ridefort ebenso in Rage brachte wie sein schwacher Akzent. »Nun denn«, fuhr er fort, »dann werde ich es Euch erklären. Eure Weigerung, Euren rechtmäßigen König anzuerkennen sowie Euer verräterisches Bündnis mit den Sarazenen hat mich die Hälfte meiner Ritter gekostet. Ich bin hier, um Euch dafür zur Rechenschaft zu ziehen und eine Entschädigung zu verlangen.«
Tripolis stützte die Ellbogen auf den Tisch und lehnte den Kopf lässig auf zwei gespreizte Finger. Er sah aus, als habe de Ridefort ihn nur nach dem Wetter gefragt, statt ihn des Verrats zu bezichtigen. »Ich habe den Angriff nicht angeordnet«, erwiderte er. »Er erfolgte auf Euren Befehl hin.«
»Ihr habt den Ungläubigen gestattet, Euer Territorium zu durchqueren, um uns dadurch zu verhöhnen!«, herrschte de Ridefort ihn an.
»Keineswegs«, gab Tripolis mit eisiger Höflichkeit zurück. »Ich habe mich an meine Abmachung mit Saladin gehalten und er sich an seine mit mir. Kein Mann würde von einem anderen verlangen, sich nicht gegen einen Feind zur Wehr zu setzen, aber an jenem Tag wäre kein Blut geflossen, wenn Ihr die Sarazenen nicht angegriffen hättet.«
Diesmal war es der Patriarch Heraclius, der antwortete: »Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für Schuldzuweisungen.« Seine einst machtvolle Stimme wurde jetzt von seinen reich bestickten Gewändern und den dicken Fettschichten merklich gedämpft. »Wir sind hier, Tripolis, um Euch zu fragen, ob Euer Abkommen mit dem Sarazenenkönig noch Gültigkeit hat.«
»Ich gehöre nicht zu den Männern, die ihr Wort brechen«, entgegnete Tripolis vorsichtig.
»Die ihr Wort nicht brechen!«, fuhr de Ridefort auf. »Ihr seid ein Verräter und ein ehrloser …«
»Schweigt!«, donnerte Heraclius. Er wandte sich wieder an Tripolis. »Wem gilt Eure Loyalität, Graf? Wollt Ihr uns wirklich weismachen, dass Ihr sie
Weitere Kostenlose Bücher