Wuestentochter
Händen.
Khalidahs Blick schweifte über die rings um sie versammelten Menschen hinweg. Es mussten ungefähr fünf hundert sein: fast die Hälfte der Bevölkerung des Tals; von den noch nicht Volljährigen bis hin zu deren Großeltern. Auf allen Gesichtern lag ein Ausdruck freudiger Erwartung.
Khalidah holte tief Atem, betete kurz zu Allah, dass sie nicht versagen möge, und ergriff dann das Wort. »Tor Gul Khan hat meiner Mission seinen Segen erteilt. Jedem, der sich Saladin anschließen will, steht es frei, dies zu tun, und es steht euch auch frei, hinterher wieder nach Qaf zurückzukehren.«
»Was ist mit denen, die noch keine sechzehn sind?«, wollte Abi Gul wissen.
Khalidah zögerte; sie hatte nicht daran gedacht, ihren Großvater danach zu fragen. Doch ehe ihr eine Antwort darauf einfiel, erklang plötzlich Tor Gul Khans Stimme. »Du kannst gehen, Abi Gul.« Er stand am hinteren Rand der Menge, durch die ein Raunen lief, als sie ihn sah. »Wenn deine Eltern es erlauben. Das gilt für alle noch nicht Volljährigen.«
»Kommst du mit uns?«, fragte jemand.
»Ich bin zu alt«, erwiderte Tor Gul Khan diplomatisch. »Aber ich werde euch morgen verabschieden, und ich werde hier sein, um euch zu begrüßen, wenn ihr zurückkehrt.«
»Was werden wir …«, begann eine andere Stimme, doch Tor Gul Khan gebot ihr mit erhobener Hand Schweigen.
»Bibi Khalidah führt dieses Unternehmen an«, verkündete er. »Ich betrachte sie als meine Erbin und Nachfolgerin. Ob sie hierher zurückkehrt, um diesen Platz einzunehmen, bleibt ihr überlassen, aber akzeptiert sie für die Dauer dieser Mission bitte als meine Stellvertreterin.«
Er nickte Khalidah leicht zu. Sie erwiderte das Nicken, dann bemühte sie sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. »Wir reiten morgen bei Tagesanbruch los. Geht jetzt und trefft eure Vorbereitungen.«
Die Menge begann sich aufzulösen, nur ein alter Mann trat auf den Felsen zu, auf dem Khalidah saß. Er sah Sulayman an, der ihn mit einem seltsamen, eindringlichen Blick maß, dann sank er vor Khalidah auf die Knie. »Bibi Khalidah, mein Name ist Arzou, und ich möchte dich um einen Gefallen bitten.«
Khalidah versuchte sich zu erinnern, warum ihr der Name bekannt vorkam. »Erhebe dich bitte, Arzou - ich bin keine Königin«, sagte sie. »Was kann ich denn für dich tun?«
Arzou musterte sie einen Moment lang aus wässrigen Augen. »Sulayman hat mir erzählt, dass du meine Tochter Sandara kennen gelernt hast.«
Khalidah zuckte zusammen, als ihr Sandaras tragische Geschichte wieder einfiel, die der ihrer eigenen Mutter so ähnelte. »Ja, ich hatte diese Ehre«, erwiderte sie weich.
Arzou nickte traurig. »Ich weiß, was sie von mir denkt und warum. Aber Sulayman hat mir erzählt, was ihr widerfahren ist, und ich kann nicht zulassen, dass sie den Rest ihres Lebens in dem Glauben, von ihrem Volk verstoßen worden zu sein, in der Abgeschiedenheit zubringt. Sie sollte hier sein, ihre Kinder sollten als Dschinn erzogen werden. Ich bin viel zu alt, um nach Al-Quds zu reiten - geschweige denn, um zu kämpfen, falls ich es erreichen sollte -, aber ihr werdet auf eurem Weg Richtung Westen durch Zabol kommen, und wenn ich euch bis dorthin begleiten darf, kannst du Sandara vielleicht überreden, mit mir nach Qaf zurückzukommen.«
»Selbstverständlich kannst du mit uns kommen«, gab Khalidah zurück. »Aber ich glaube, du wirst Sandara auch ohne meine Hilfe dazu bewegen, mit dir zu kommen.«
Arzou nahm ihre Hände in die seinen und küsste sie.
An diesem Abend ging es in Khalidahs Schlafsaal ebenso chaotisch zu wie am ersten Abend des psarlay, doch diesmal wurde statt mit Kleidern und Gesichtsfarben mit Rüstungen, Waffen, Satteltaschen und Bettzeug hantiert. Abi Gul holte Khalidahs Sachen aus dem Schrank, in dem sie seit ihrer Ankunft in Qaf zusammen mit den Rüstungen und Waffen der anderen Mädchen gelegen hatten. Neben ihrem Sattel, ihrer Decke und ihrem Schwert besaß sie nun auch noch zwei neue Bogen - einen mit langer und einen mit kurzer Reichweite - einen Köcher mit den drei Arten von Pfeilen, die die Dschinn im Kampf verwendeten, eine mit Fischleim verstärkte Rüstung, die sie schon während ihres Trainings getragen hatte, einen aus Leder und Metall gefertigten Helm, ein schlichtes weißes Gewand und eine Garnitur des Seidenunterzeugs, über das sie sich an ihrem ersten Tag in Qaf so gewundert hatte. Inzwischen wusste Khalidah auch, was es damit auf sich hatte: Die Seide
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