Wuestentochter
in ihm ausgelöst hatte.
Im Morgengrauen erwachte er, überrascht, dass er überhaupt geschlafen hatte. De Ridefort war verschwunden, das Feuer heruntergebrannt, und Numair lag trunken schnarchend neben der kalten Asche. In diesem Augenblick hatte sich Bilal so einsam und verlassen gefühlt, dass er flüchtig erwogen hatte, sein Pferd zu nehmen und zu fliehen. Doch dann war ihm die geflüsterte Drohung wieder eingefallen, die Numair nach jenem ersten verhängnisvollen Treffen mit de Ridefort in der Burg von Kerak ausgestoßen hatte: »Er mag ja dein Vater sein, Bilal, aber vergiss nie, dass ich dein Herr bin. Du wirst tun, was ich sage, oder ich sorge dafür, dass die Geschichte deiner Mutter im ganzen Land bekannt wird, und diesmal entgeht sie der Steinigung nicht …«
»Pass auf!«
Bilal zwinkerte. Salim hatte ihn am Arm gepackt und zurückgerissen, bevor er in den Graben vor ihnen stürzen konnte. Als er aufblickte, bemerkte er, dass sie den Rand des Lagers erreicht hatten. Vor ihnen erstreckten sich Reihen von Gräben, über denen Fliegenschwärme surrten.
»Und hier haben wir die Latrinen.« Salims Mundwinkel zuckten verdächtig. Seine Augen funkelten bereits vor unterdrücktem Lachen. »Mit denen du beinahe intime Bekanntschaft geschlossen hättest. Bist du einVerräter?«
»Bitte?« Bilal spürte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich.
Aber Salim lachte, und Bilal erkannte erleichtert, dass er nur einen Scherz gemacht hatte. »Die Scheiße der Gläubigen aus den Latrinen zu schaufeln ist eine gängige Strafe für Gefangene und Männer, die sich des minderschweren Verrates schuldig gemacht haben.« Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein Gesicht und ließ es noch anziehender wirken. »Aber vielleicht sollte sie uns allen auferlegt werden.«
»Wie meinst du das?« In Bilals Kopf drehte sich noch immer alles.
Salim hob die Brauen. »Frag mich das noch einmal, wenn wir uns besser kennen.« Und trotz des rätselhaften Untertons dieser Bemerkung durchströmte Bilal eine tiefe Freude. Salim wollte ihn besser kennen lernen …
15
Anfangs unterschied sich Jassirah kaum von Arabien. Khalidah und Sulayman durchquerten eine weitläufige, eintönige Wüste, deren flache Sandebenen nur von kleinen Ansiedlungen rund um einen Brunnen oder eine Oase unterbrochen wurden. Ab und an sahen sie in der Ferne Gazellen- oder Steinbockherden, die wie Ameisen am Horizont entlangzogen. Nach dem Zwischenfall in Domat al-Jandal hatten sie es aufgegeben, nur nachts zu reisen, und brachen jetzt beim ersten Morgengrauen auf, machten mittags Rast und ritten dann weiter, bis die Erschöpfung sie zwang, ihr Nachtlager aufzuschlagen.
Nach ein paar Tagen begann das erste Grün den kahlen Sand zu durchsetzen, zuerst in Form von hartem Binsengras und Buschwerk, das rund um kleine, abgelegene Teiche und Bäche wuchs, doch bald wurde die Luft feucht, und die Wüste wich Weizenfeldern, Obstgärten und großen, von sorgsam in Stand gehaltenen Kanälen bewässerten Dattelpalmenhainen, die zu gepflegten Bauernhöfen und Dörfern gehörten.
»Wir befinden uns jetzt in Mesopotamien«, erklärte Sulayman, als Khalidah ihn auf die veränderte Landschaft ansprach. »Jetzt siehst du mit eigenen Augen, warum manche Gelehrte dieses Land für den Garten Eden gehalten haben.« Khalidah betrachtete ihre Umgebung schweigend. Sulayman fuhr fort: »Wir werden morgen Basra erreichen. Dort können wir den Fluss überqueren, wenn er nicht nach der Frühlingsflut über die Ufer getreten ist.«
»Welchen Fluss?«, fragte Khalidah verwirrt.
Sulayman warf ihr einen eigenartigen Blick zu. »Den Schatt al-Arab.« Als er sah, dass sie immer noch nicht begriff, was er meinte, fügte er hinzu: »Der Fluss, der die Dijalah und Al-Furat verbindet.«
Khalidah erwiderte nichts darauf. Bis zu diesem Moment war Mesopotamien mit seinen großen Strömen für sie genauso ein Mythos gewesen wie Qaf - nicht, weil sie nicht daran glaubte, sondern weil sie nie gedacht hätte, diese Länder einmal selbst zu bereisen. Und nun würde sie die sagenumwobenen Flüsse Mesopotamiens nicht nur sehen, sondern auch überqueren und hinter sich lassen wie die vertrauten Wüsten Arabiens. Um den inneren Aufruhr zu verbergen, der in ihr tobte, blickte sie zum Horizont hinüber. Sie spürte fast schmerzhaft, wie jeder Schritt sie weiter von ihrer Heimat forttrug.
In dieser Nacht schlief Khalidah sehr schlecht. Sie lagerten in einem Dattelpalmenhain in der Nähe eines kleinen,
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