Wuestentochter
angelegter Gärten. Schwarzhaarige Reiter mit schräg stehenden Augen galoppierten über eine weite grasige Ebene gen Westen. Drei an Walnussschalen erinnernde Schiffe, auf deren Segeln dasselbe rote Kreuz prangte wie auf den Mänteln der Templer, kämpften gegen eine stürmische See an. In einer Vision stand sie in einem Raum aus Sandstein mit einem langen Fenster in einer Wand. Durch das Fenster fiel helles Licht, in dem eine Frau saß und nähte. Sie hatte dichtes schwarzes Haar, das fast bis zum Boden reichte, schwarze Augen mit leicht östlichem Einschlag, und sie sang in einer fremden Sprache ein Lied von solcher Süße, dass Khalidah Tränen in die Augen stiegen.
Ein dunkler Schlund öffnete sich unter ihr und wurde langsam immer heller. Zwei Armeen standen sich auf dem weißen Sand eines Tales gegenüber. Am Rand des Tals erhoben sich bewaldete Hügel, und weit in der Ferne erstreckte sich eine weitläufige Wasserfläche. Bunte Standarten wehten in der Morgenbrise; auf der einen Seite die Kreuze der Tempelritter, rot auf weißem Grund, die Kreuze der Hospitaliter, weiß auf schwarz und die Banner der großen Fürstenhäuser der Franken, auf der anderen die der Kriegerstämme des Islams: das leuchtende Gelb der Ayyubiden und Mamluken, das Grünweiß der Fatimiden und das Schwarz der Seldschuken. Die Armeen trafen mit einem Gebrüll wie Donnerhall aufeinander, der Boden erzitterte, dann wurden sie von der großen Staubwolke verschluckt, die sie aufgewirbelt hatten. Khalidah hörte ihre eigene Stimme »Jetzt!« schreien, dann stieß sie in das Gewirr aus kämpfenden Leibern und Stahl hinab.
Kurz bevor sie sich in das Getümmel stürzen konnte erwachte sie. Ihr Herz hämmerte wie wild. Zuerst wusste sie nicht, wo sie war, dann begann sie ihre Umgebung allmählich bewusst wahrzunehmen. Sie lag auf einer alten Binsenmatte auf dem Boden einer Höhle und war mit ihrer Decke zugedeckt. Das Feuer neben ihr war heruntergebrannt, und durch Ritzen im Felsgestein fielen die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages. In einer Ecke stand eine zerbeulte Kupferschale mit den Überresten einer Flüssigkeit, bei der es sich um einen Kräutertrank zu handeln schien.
Sulayman und Ghassan lagen auf der anderen Seite des erloschenen Feuers. Das Schlimmste befürchtend kroch Khalidah zu Sulayman hinüber, stellte aber zu ihrer Erleichterung fest, dass er ruhig und gleichmäßig atmete. Als sie seine Wange berührte, fühlte sie sich kühl an. Sie lehnte sich zurück und starrte die kahlen Steinwände an. Wirre Bilder von Blumen und Blättern und einer Frau mit altem Gesicht und junger Stimme, die in Rätseln gesprochen hatte, zogen an ihr vorbei und vermischten sich mit denen ihrer Träume, bis sie nicht mehr sicher war, was wirklich geschehen war und was nicht.
Endlich weckte sie Ghassan auf. »War sie ein Mensch aus Fleisch und Blut?«, fragte sie geradeheraus. »War irgendetwas von der gestrigen Nacht real?«
Ghassan nickte zu Sulayman hinüber. »Sag du es mir.«
Khalidah barg seufzend das Gesicht in den Händen. »Wer war die Frau?«
»Amertat«, erwiderte Ghassan.
»Wer?«
»Amertat. Eine der Amesha Spentas … eine Art Göttin. Sie verkörpert die Unsterblichkeit und ist die Schutzherrin der Pflanzen.«
Khalidah sah ihn ungläubig an. »Willst du mir weismachen, dass wir im Haus einer persischen Göttin übernachtet haben?«
»Ich will dir gar nichts weismachen. Wir haben einfach nur im Haus einer Frau namens Amertat geschlafen, und sie hat unserem Freund das Leben gerettet.«
Wieder seufzte Khalidah tief. »Und wie geht es jetzt weiter?«
»Jetzt …«, Ghassan griff nach Wasims Zaumzeug, »… macht ihr euch auf euren Weg und ich mich auf meinen.«
»Kommst du nicht mit uns?«
Ghassan schüttelte lächelnd den Kopf. »Dies ist deine Reise, Khalidah … deine und seine.« Er nickte zu Sulayman hinüber. »Aber besucht mich auf eurem Rückweg, wenn es euch möglich ist, und erzählt mir, wie es euch ergangen ist.« Er sah sie an. Seine Züge wurden weicher. »Wünsch ihm in meinem Namen alles Gute.«
»Willst du nicht noch warten und es ihm selbst sagen?«
Ghassan schüttelte erneut den Kopf. »Er wird sich an nichts von dem erinnern, was geschehen ist, und das ist vermutlich auch besser so. Lass ihn in dem Glauben, du hättest mich in den Marschen zurückgelassen und er wäre von selbst wieder gesund geworden.«
Khalidah sah den alten Mann lange an, dann kniete sie vor ihm nieder, nahm seine Hände in die
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