Wuestentochter
Alles, was sie hätten sagen können, lag in dem Blick, den sie tauschten, bevor Salim sein Pferd wendete und sein Vater in sein Zelt zurückging: durch Enttäuschung getrübte Liebe, durch Zweifel getrübter Stolz. Bilal wusste, wie sehr Salim darunter litt, und bedauerte zutiefst, dass die Art ihrer Beziehung es ihm unmöglich machte, den Prinzen hier und jetzt in die Arme zu schließen und an sich zu drücken, bis der Schmerz abebbte.
Statt dessen gab er Anjum den Kopf frei und versuchte sich in ihrem fast schwerelosen Galopp zu verlieren. Der Trupp ritt die ganze Nacht hindurch und machte schließlich im Windschatten eines niedrigen tal Halt. Die Männer machten sich nicht die Mühe, ihre Zelte aufzubauen, sondern streckten sich auf dem nackten Boden auf ihren Decken aus und warteten auf den Anbruch des neuen Tages.
Als Bilal erwachte, lag Salims Decke bereits ordentlich zusammengerollt neben der seinen. Er blickte sich um und sah den Prinzen in einem niedrigen, offenen Zelt knien, das man zum Schutz vor dem aufkommenden Wind aufgestellt hatte. Er studierte zusammen mit zweien seiner umara eine Karte. Als er Bilal sah, winkte er ihn zu sich.
»Wir befinden uns hier.« Er deutete auf ein Gebiet nordöstlich des Dorfes Amman. »Die Stadt verfügt nur über eine kleine Garnison - ein guter Grund, um dort zu beginnen.«
Instinktiv schätzte Bilal die Entfernung zwischen Amman und Kerak ab, obwohl er keine Ahnung hatte, ob sich sein Vater an einem der beiden Orte oder im Ordenshaus von Jerusalem aufhielt oder ob er just in diesem Moment gen Norden marschierte, um Tripolis ein Ultimatum zu stellen. Er bereute zutiefst, sich nicht eingehender mit de Rideforts üblichen Vorgehensweisen beschäftigt zu haben, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte, denn in den letzten Monaten war er zunehmend von der Furcht beherrscht worden, ihm irgendwo unverhofft zu begegnen. Aber bis vor kurzem - bis er Salim kennen gelernt hatte, wie er sich ehrlich eingestand - war ihm nie der Gedanke gekommen, dass er sein Schicksal zum großen Teil selbst bestimmen konnte. Wenn er jetzt darüber nachdachte, verstand er sich selbst nicht mehr.
»Und was werden wir dort tun?«, fragte er, als ihm klar wurde, dass Salim und seine Männer auf eine Antwort von ihm warteten.
Zu seinem Verdruss sahen ihn die umara auch weiterhin voll stummer Erwartung an, und Salim lächelte leicht. »Das sollst du uns sagen«, entgegnete er.
»Ich? Was verstehe denn ich von solchen Dingen? Ich habe kaum eine militärische Ausbildung …«
»Hast du meinem Vater nicht gesagt, du hättest an einigen ghazawat deines Stammes teilgenommen?«, unterbrach Salim ihn.
Bilal fuhr sich seufzend mit einer Hand durch sein kurzes Haar, das er noch nicht mit einem Turban bedeckt hatte. »Ja, gegen andere Stämme. Aber ein Beduinenlager lässt sich nicht mit einer fränkischen Garnison vergleichen.«
Doch auch diese Bemerkung verfehlte die erhoffte Wirkung auf die umara. Mit einem weiteren tiefen Seufzer setzte sich Bilal zu ihnen. »Bei einem Beduinen-ghazw geht es vornehmlich um Schnelligkeit und Überrumpelung; man überfällt den Gegner, wenn er am wenigsten damit rechnet, tötet möglichst rasch möglichst viele Männer und macht sich mit der Beute davon, ehe der Rest merkt, wie ihnen geschieht …« Überrascht registrierte er, dass sein Herz bei der Erinnerung schneller zu schlagen begonnen hatte, und unverhofft wurde er von einer Welle von Heimweh erfasst. »Aber das wird euch nicht interessieren …«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Salim. »Es interessiert mich brennend, obwohl wir es nicht auf Köpfe und Beute abgesehen haben, sondern auf Informationen - nicht, dass mein Vater sich an ein paar toten Franken stören würde -, und an diese Informationen gelangen wir nur, wenn wir blitzschnell und unvermutet zuschlagen. So …« Er reichte Bilal die Karte. »Ich habe dir gezeigt, wo unser Lager und Amman liegen. Diese Markierungen stehen für Wadis, die anderen für Hügel und tals. Wie sollen wir nun deiner Meinung nach vorgehen?«
Bilal musterte Salim lange; forschte in seinen Zügen nach Anzeichen für gönnerhafte Herablassung, fand aber keine. Also richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Karte, holte tief Atem und sagte: »Wir fangen hier an …«
24
Sulayman stellte keine Fragen; nicht, nachdem er in der Höhle erwacht war und auch nicht in den darauffolgenden Tagen. Vielleicht kannte er die Antworten bereits, oder er war zu dankbar für
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