Wüthrich, G: Dölf Ogi: So wa(h)r es!
unterbricht ihn der Hotelier: «Entschuldigung, Herr Nationalrat, aber Bundesrat Leon Schlumpf hat angerufen. Er verlangt Sie dringend. Sie sollen sofort zu ihm nach Bern kommen.»
Ogi bringt das Referat noch zu Ende, dann fährt er nach Bern. Er weiss, was der Anruf bedeutet und vor allem, was auf ihn zukommen könnte …
Im Büro im Bundeshaus Nord teilt Leon Schlumpf in seiner trockenen Bündner Art dem Präsidenten der SVP mit: «Morgen gebe ich meinen Rücktritt bekannt.»
Eigentlich wollte Schlumpf schon ein Jahr zuvor gehen, aber da schrieb die «Schweizer Illustrierte» nach einer Kanada-Reise, Schlumpf spreche nur schlecht Englisch. Da hängte der Bündner erst recht noch ein Jahr an: «Die sollen nicht meinen!» So hat es jedenfalls Ogi in Erinnerung.
Schlumpfs Nachfolger sollte unbedingt ein Berner werden. Die SVP schickt, sinnbildlich gesprochen, eine Drohne übers Bundeshaus. Hat ein bernischer Regierungsrat noch eine Chance, nach der Finanzaffäre, die den Kanton dermassen durchgeschüttelt hat? Der legendäre Historiker und Politiker Walther Hofer lässt in der Zeitung «Der Bund» verlauten: Wenn Bern einen Bundesrat wolle, dann gehe es nur mit Ogi. Und so kommt es denn auch.
An Ogi führt tatsächlich kein Weg vorbei. Er hat schliesslich vor zwei Monaten bei den Nationalratswahlen das beste Ergebnis im ganzen Land erzielt. Als Parteipräsident hat er zudem mitgeholfen, den Wähleranteil der SVP vom Tiefststand von 9,9 Prozent wieder deutlich über 10 Prozent zu steigern. Doch der Bundesratssitz ist der Partei nicht mehr sicher.
Die Wahl in den Bundesrat kann aber auch die «NZZ» nicht mehr verhindern. Am 23. November 1987 verfasst Kurt Müller jenen Kommentar, der Dölf Ogi nie mehr loslassen wird. Die «NZZ» schreibt, wie im Prolog zu lesen ist, dass die verbreiteten Bedenken, ob er, Ogi, auch über das nötige geistige Format für das höchst anspruchsvolle Amt verfüge, nicht ausgeräumt seien … Die Vereinigte Bundesversammlung gibt zwei Wochen später eine deutliche Antwort: Adolf Ogi wird schon im zweiten Wahlgang mit 132 Stimmen gewählt.
Vor der Wahl habe er schon noch mit Christoph Blocher gesprochen. In Zürich, auf «neutralem Boden», möglichst weit weg vom Bundeshaus, unbemerkt von Kameras und Mikrofonen. Blocher ist nicht gegen die Wahl, er unterstützt Ogi sogar.
Er habe damals wohl eingesehen, dass es ein Berner Sitz sein müsse, meint Max Friedli heute. Es wäre nicht gut gewesen für die Partei, wenn Ogi nicht gewählt worden wäre: «Die SVP war zu dieser Zeit noch keine stabile, gefestigte Partei.»
Nach und nach driften die politischen Auffassungen der beiden – mittlerweile fest im politischen «Sattel» sitzenden – einstigen Nachwuchstalente dann stark auseinander. Adolf Ogi gehört zur knappen Bundesratsmehrheit, die während einer denkwürdigen Sitzung am 20. Mai 1992 beschliesst, die EU brieflich um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu bitten. Ogi betont auch heute noch: «Es war kein Beitrittsgesuch, wie immer wieder fälschlicherweise behauptet wird, sondern ein Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen.» Das sei nicht dasselbe, sagt er auf einem Spaziergang in seinem geliebten Gasterntal im Sommer 2011. Schon, aber das Beitrittsziel hat die Bundesratsmehrheit damals wohl schon vor Augen gehabt.
Der Brief liegt übrigens immer noch in Brüssel, fein säuberlich aufbewahrt im Zentralen Archiv des Europäischen Rates an der Rue de la Loi 175. Das noch vom erkrankten Bundespräsidenten unterschriebene Dokument trägt die Nummer 237547673 und ist in der Schachtel Nr. 143, auf Tablar 5, im Rayon 2 abgelegt.
Die besagte Bundesratssitzung beginnt am 20. Mai 1992 ungewohnt früh, schon um 6.00 Uhr. Bundespräsident René Felber muss an diesem Morgen ins Spital. Blasenkrebs! Die Stimmung ist hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl für den schwer kranken Kollegen und der Freude darüber, dass das Schweizer Volk am Wochenende dem Beitritt zu den sogenannten Bretton-Woods-Institutionen zugestimmt hat – zum Internationalen Währungsfonds (IWF) und zur Weltbank –, mit 55 Prozent Ja-Stimmen überraschend deutlich.
Der Brief an die EU liegt immer noch in Brüssel, fein säuberlich aufbewahrt im Zentralen Archiv des Europäischen Rates an der Rue de la Loi 175.
«Das Zeitfenster ist günstig», sagt sich Ogi und gesellt sich zu seinen Kollegen René Felber, Flavio Cotti und Jean-Pascal Delamuraz, die die Beitrittsverhandlungen mit der EU allesamt
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