Wunder wie diese
Warum habe ich nicht einfach »Amelia« gesagt? Versuchs mit der Street-Cred-Donna-Masche. Stell dir vor, du hast ein Piercing in der Unterlippe und ein Tattoo auf dem Oberarm.
»Guten Abend, Kleine«, vernehme ich Chris’ Stimme.
»Hi Chris. Was… Was machst du gerade?«
»Ich guck mit meiner Schwester Media Watch.«
»Oh… Soll ich vielleicht wann anders anrufen?«
»Nee, ist sowieso gleich zu Ende. Was gibt’s?«
»Also, ich hab mich gefragt, ich… wollte mit dir über was reden… weil ich es nicht verstehe…«
»Was ist los, Kleine?«, fragt er in seinem typischen, geduldigen Tonfall. Wenn er mit mir spricht, verfällt er öfter in seinen ›geduldigen Tonfall‹.
Na los… mach schon.
»Was zum Teufel ist das denn für ein Ende bei Große Erwartungen?«
Um etwas weiter auszuholen – ich saß heute mit Penny in der Mittagspause an unserer üblichen Stelle. Die Pause geht von 12.40 bis 13.20. Wie auf Knopfdruck erschienen um 12.55 wieder die Jungs, die uns in letzter Zeit regelmäßig mit ihrer Anwesenheit beehren, Allen voran dieser schreckliche Scott, der selbstverliebter ist, als ihm und allen anderen guttut. Er lässt sich wie so oft neben Penny nieder, macht es sich mit ausgestreckten Beinen gemütlich, den Kopf auf den Ellbogen gestützt wie Caecilius, dieser Typ aus Pompeji, der in unserem Geschichtsbuch aus der Siebten vorkommt, und beglückt sie mit seinem Esprit. Er schenkt mir keinerlei Beachtung, obwohl ich jedes Mal danebensitze, wenn er sich bei Penny niederlässt. Ich rechne fest damit, dass sie ihm gehörig den Marsch bläst und ihn wegschickt, aber nichts dergleichen geschieht. Deshalb hab ich die Mittagspause in letzter Zeit mit Lesen verbracht. Umringt von gezwungenem Gelächter und dilettantischen Flirts meiner Altersgenossen, vergrabe ich meinen Kopf im Buch und gebe damit allen zu verstehen, dass ich ihr Verhalten strengstens missbillige.
Ich frage mich, ob es überhaupt jemandem auffällt. Heute habe ich die letzten fünf Seiten von Große Erwartungen gelesen. Und deshalb muss ich Chris dringend sprechen.
»O-oh«, sagt Chris.
»Was für ein becheuertes Ende!«
»Na, beruhig-«
»… sah ich keinen Schatten einer Trennung von ihr. Was soll das denn heißen? Das bedeutet doch hoffentlich nicht, dass sie wieder zusammenkommen. Sag mir, was das heißen soll!«
»Genau das bedeutet es.«
»Was hat das Ganze denn dann für einen Sinn? Was soll denn die Lektion sein, die Pip gelernt hat und die wir von ihm lernen?«
»Na ja…«
»493 Seiten lang hab ich Pip und seinen Blödsinn ertragen, habe mit angesehen, dass er den Leuten, die ihn lieben, gegenüber grausam ist und er stattdessen weiter denen nachrennt, die es nicht tun. Habe es mit all dem lächerlichen ›Lug und Trug‹ auf mich genommen, den Illusionen, den falschen Schlüssen, den ›Oh Soundso ist in Wahrheit Soundsos Vater‹; ›Soundso ist in Wirklichkeit Ms Havishams Verlobter, der ihr den Laufpass gegeben hat; Soundso war Pips wahrer Wohltäter; Soundso war derjenige, der Mrs Gargery in ein Gemüse verwandelt hat‹. Ich habe das alles bis zum Ende ertragen in der Hoffnung, dass dann der ganze Schwindel auffliegen würde und die Figuren die Dinge sehen, wie sie sind. Pip würde dann endlich in Estella und Ms Havisham die wahren grausamen Schlampen erkennen, die sie sind. Er würde lernen, seinen Niedergang mit Würde zu ertragen – nicht so wie Gatsby mit seinem ›Daisy ruft bestimmt an‹ – nein, Gatsby, wird sie nicht – und beschließen, sein Leben weiterzuleben. Wir kriegen nicht immer, was wir wollen, ganz besonders dann nicht, wenn wir, du weißt schon, jemand anderen begehren. Aber es ist doch schon mal viel wert, wenn wir am Ende etwas klarer sehen, oder?«
»Also, ich finde schon.«
»Was hat sich Dickens dann dabei gedacht, was wollte er mit dieser Abfolge von Ereignissen bezwecken, wenn der Held nicht gereift daraus hervorgeht?«
»Na ja…«
»… sah ich keinen Schatten einer Trennung von ihr . Was er eigentlich hätte sagen sollen, ist: Ich sehe eine ganze Menge Schatten einer weiteren Trennung von ihr, weil ich es so will. Ich bin lange genug an diesem großartigen kaputten Ort herumgeirrt, sowohl physisch als auch psychisch, und jetzt ist es an der Zeit weiterzuziehen.«
»Vielleicht hatte Dickens Bedenken, dass die Leser empört wären, wenn es kein Happy End für Pip und Estella gäbe«, wirft Chris ein, dem es endlich gelungen ist, auch mal zu Wort zu kommen.
»Dann hätte er
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