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Wunder wie diese

Wunder wie diese

Titel: Wunder wie diese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Buzo
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den lieben langen Tag mit derartigen Diskussionen zubringen – kein Mathe, kein Bio mehr! Aber geh bloß nicht in »Geschichte der amerikanischen Außenpolitik«. Das könnte dein Ende bedeuten.
    Also, Kleine, ich hoffe, dass du mit dem oben Erwähnten im Unterricht glänzen kannst, obwohl du das wahrscheinlich auch so tust. Hier ein paar abschließende Bemerkungen zu den »Unterschieden« und den »Pfeilern der Unterdrückung« und wie uns die Dritte Welle gelehrt hat, darüber zu denken. In vielen Soziologie-Seminaren, die ich besucht habe, und in einem Großteil der Lehren per se, wird der »Unterschied« anhand des Vergleichs von uns erfolgreichen, wohlhabenden Australiern mit Menschen in Entwicklungsländern oder Kriegsgebieten deutlich gemacht. Selbst ein Blinder kann erkennen, dass es enorme Unterschiede gibt zwischen den Möglichkeiten und Erfahrungen von uns Australiern und Menschen, die in permanenter Angst davor leben, dass die Miliz ihre Häuser plattmacht, Frauen und Kinder vergewaltigt und anschließend alle abknallt. Der Vergleich ist banal. Weißt du was, Kleine? Wir müssen gar nicht so weit weggehen. Ich wette, dass wenn du dir Sydney und dein Leben hier vorstellst, die Gegend, in der du und deine Freunde leben, der Weg zur Schule und zur Arbeit, die Strände, wo du im Sommer schwimmen gehst, die Innenstadt, wo du einkaufst und ins Kino gehst, und was immer noch für dich eine Rolle hier spielt – ich wette, dass du dabei nicht an die Sozial-Gettos beispielsweise in Morton denkst, wo sich die zwanzigjährigen Mütter mit drei Kindern ein Dasein ohne Gewalt und Armut, ohne Sozialhilfe gar nicht vorstellen können. Ich wette, du fragst dich sogar: »Wo verdammt noch mal liegt denn Morton?« Es ist ein Vorort im Westen, zwischen Mount Druitt und St Marys. Sie haben dort keine Zuganbindung, keine überregionalen Buslinien und viele der privaten Busunternehmen weigern sich sogar, dieses Gebiet zu befahren. Wenn du’s dir mal richtig geben willst, dann verbring einen Morgen im sozialen Beratungszentrum von Morton und den Nachmittag im Kirribilli Yacht Club.
    Man muss gar nicht so weit gehen, um den »Unterschied« zu erkennen. Denk bloß nicht, er befände sich in sicherer Entfernung.
    Gott sei Dank, der Typ ist endlich fertig.
    Abgang Harvey.
    Ich bin total überwältigt und lehne mich für einen Moment zurück. Dann bringe ich die leere Schüssel in die Küche, lasse kurz Wasser drüberlaufen und stelle sie in den Geschirrspüler. Es ist fast zehn. Zeit für die Hausaufgaben, obwohl ich am liebsten den Brief noch einmal lesen würde. Ich nehme meinen Rucksack mit nach oben. Es ist dunkel, nur Jessies Nachtlicht leuchtet. In meinem Zimmer knipse ich die Schreibtischlampe an und hole meine Bücher raus. Den Brief lege ich in die obere Schublade zu dem anderen.
    Bis ich ins Bett komme, ist es Mitternacht. Beim Einschlafen höre ich, wie Dad von der Probe nach Hause kommt.
    Reife
    Es ist sieben Uhr. Ich habe bereits geduscht, die Schuluniform angezogen und bin dabei, Jessie aufzuwecken.
    »Aufstehen!« Ich klatsche in die Hände. »Los geht’s.«
    Sie verzieht das Gesicht, ohne die Augen zu öffnen, gibt ein paar Unmutsäußerungen von sich und umklammert ihren Teddybär.
    Ich ziehe den Vorhang auf. Die Sonne scheint ihr direkt ins Gesicht. »Jess, Mum wird genervt sein und zu spät zur Arbeit kommen. Das wollen wir doch nicht, oder?«
    Keine Reaktion.
    »Ich zieh dir gleich die Decke weg.«
    »Neiiiin.«
    Ich sehe auf meine Armbanduhr. Ich hab keine Zeit für so was. Ich muss Jess jetzt fertig machen, damit ich Mums Tee und Toast zubereitet habe, bis sie runterkommt. Ich stelle mich an den Fuß des Betts und ziehe mit einem Ruck die Decke weg.
    Noch mehr mürrische Laute.
    Ich setze sie auf. Sie hängt da wie ein schlaffer Sack. Ich kehre ihr den Rücken zu und hole ihre Kindergartenuniform aus der Schublade. Als ich mich wieder zu ihr umdrehe, ist sie im Bett zusammengesackt.
    Ich zerre sie ziemlich unwirsch am Arm. »Jess, du stehst jetzt auf! Jetzt! Sonst fliegt Teddy aus dem Fenster!«
    Das hat gesessen. Sie stellt sich im Bett auf und hebt die Arme hoch, damit ich ihr das Pyjama-Oberteil über den Kopf ziehen kann. Ich fühle mich mies, aber was soll ich sonst tun? Außerdem ist das richtig harmlos im Vergleich zu dem, was Liza mit mir abgezogen hat, wie zum Beispiel mir einzureden, dass Mum und Dad mich an meinem sechsten Geburtstag ins Waisenheim stecken würden.
    Ich helfe Jess, ihren

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