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Wunder wie diese

Wunder wie diese

Titel: Wunder wie diese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Buzo
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seinen Lesern mehr Respekt zollen sollen«, bricht es aus mir heraus. »Wenn ich ein Happy End will, dann seh ich mir Pretty Woman an. Blöder Pip! Er hätte Biddy heiraten sollen, solange er noch Gelegenheit dazu hatte, sich einen Job suchen und die Klappe halten. Klar wollen wir alle eine Estella, aber wir kriegen nicht immer, was wir wollen, stimmt doch.«
    »Ja«, stimmt mir Chris zu und in seiner Stimme schwingt Enttäuschung mit.
    »Ich hatte ›Große Erwartungen‹… an dieses Buch.«
    »Weißt du eigentlich, dass Dickens zuerst ein anderes Ende für das Buch vorgesehen hatte? Eines, bei dem sie nicht zusammenfinden?«
    »Echt jetzt?«
    »Jetzt echt. Pip und Estellas Wege trennen sich. Pip arbeitet hier und da. Estella wird von ihrem brutalen Gatten zu Brei geschlagen, er wird schließlich von einem Pferd, das er misshandelt, niedergetrampelt. Sie heiratet dann den Arzt, der sie nach einer dieser Handgreiflichkeiten versorgt hat. Ein paar Jahre später treffen sich Pip und Estella und tauschen Förmlichkeiten aus. Pip ist zufrieden, dass sie so viel einstecken musste, um zu verstehen, was er all die Jahre durchgemacht hat. Was er aber wirklich sagen will, ist, dass er froh ist, dass ihr die wohlverdiente Strafe zuteilgeworden ist.«
    »Das ist ein viel besserer Schluss. Was ist daraus geworden?«
    »Edward Bulwer-Lytton hat ihn Dickens ausgeredet.«
    »Wer ist denn Edward Bulwer-Lytton?«
    »Er ist der Urheber von Es war eine finstere und stürmische Nacht, dem wohl miesesten Romananfang aller Zeiten.
    »Nein!«
    »Doch.«
    »Wie deprimierend.«
    »Ja«. Ich höre, wie er gähnt und sich rekelt. »Du wolltest also unbedingt, dass Pip erwachsen wird, was?«
    »Ich wollte, dass er seine wohlverdiente Strafe kriegt. Dass ihm bewusst wird, dass er sich all die Jahre hat an der Nase herumführen lassen.«
    »Aber er ist nie über seine Angst vor Virginia Woolf hinweggekommen.«
    »Was?«
    »Egal, das ist aus – ich werde dir besser nicht erzählen, wo das herstammt. Du wirst es eines Tages selbst entdecken und dann wirst du sagen: Aha, das war es, was Chris damals gemeint hat…«
    Kurze Stille. Ich atme wieder normal. Ich wünschte, Chris würde zu mir in mein kleines Zimmer ziehen.
    »Also, Kleine. Ich muss mal Schluss machen. Versuch dich mal an das zwanzigste Jahrhundert zu halten. Da gibt es jede Menge konfrontierenden Realismus.«
    »Wir sehen uns bei Woolies.«
    »Ah.« Er gähnt noch einmal. »Ja.«
    Ich lege auf und grüble noch einen Moment länger nach. Dann stehe ich vom Bett auf und gehe hinunter, Große Erwartungen an meine Brust gedrückt. Ich halte einen Moment im Flur inne und strecke den Hals in Richtung Hintertreppe, die zu Dads Arbeitszimmer hinunterführt. Durch die geschlossene Tür dringt Sibelius’ Fünfte Symphonie. Ich fühle mich ermutigt – Sibelius’ Fünfte bedeutet, dass er gute Laune hat. Sie könnte die härtesten Herzen erweichen.
    Ich klopfe sachte an…
    »Herein – «
    . . . und trete ein. Er sitzt in dem großen Sessel beim Fenster, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen eine Ausgabe des Spectator . Ich drehe die Lautstärke einen Tick herunter.
    »Dad?«
    »Ja, mein Schatz?« Mit seinem feingliedrigen Zeigefinger klopft er die Asche von der Zigarette.
    »Was bedeutet es, Angst vor Virginia Woolf zu haben?«
    Er runzelt die Stirn. »Wie bitte?«
    Ich wedle mit den Großen Erwartungen.
    »Wenn ich sagen würde: ›Pip hat ganz eindeutig Angst vor Virginia Woolf‹‚ was könnte das bedeuten?«
    Er lächelt. Dann legt er die Zigarette im Aschenbecher und den Spectator auf der Armlehne ab, erhebt sich und geht zu einem der Bücherregale. Er zieht ein dünnes vergilbtes Taschenbuch hervor und reicht es mir. Wer hat Angst vor Virginia Woolf? von Edward Albee.
    »Lies es und finde es selbst heraus«, sagt er und lässt sich wieder in dem Sessel nieder.
    Bathurst
    Ich arbeite dieses Wochenende nicht, das erste Mal seit Ewigkeiten. Stattdessen fahre ich mit dem Zug nach Bathurst, um Lizey zu besuchen. Das wollte ich schon seit einem Jahr machen, aber ich habe mich bislang nicht getraut, Bianca, die die Dienstpläne macht, um ein freies Wochenende zu bitten. Als ich Chris davon erzählt habe, hat er mich schnurstracks zum Service-Schalter geschleppt und ist neben mir stehen geblieben, bis ich Bianca gefragt hatte. Sie hat Ja gesagt.
    Hinter ihr saß Jeremy auf der Glastheke, völlig blasiert, und tat supercool. Seine rote Fliege fehlte und sein Namensschild hing

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