Wunder wie diese
nächste Abfahrt hinweist: Morton. Morton , höre ich Chris sagen, man muss gar nicht so weit gehen, um den »Unterschied« zu erkennen.
Der Kleine schreit wieder. Seine Mum packt eine Coladose aus und lässt ihn davon trinken. Sie steigen an einer Station namens Emu Plains aus.
Die restliche Fahrt verbringe ich damit, zu lesen und mich mit Chris zu unterhalten – in Gedanken. Diese Unterhaltungen sind zu meiner Lieblingsbeschäftigung geworden und schon fast zwanghaft. In diesen Gesprächen bin ich immer geistreich, manchmal richtig cool. Und ich habe die absolute Kontrolle.
Der Zug trifft gegen 11 Uhr in Bathurst ein. Der Himmel ist von grauen, tief hängenden Wolken überzogen. Selbst durch die Scheiben spüre ich, dass es hier viel kälter ist als in Sydney. Ich springe aus dem Zug und entdecke Lizey am anderen Ende des Bahnsteigs. Sie hat einen Typen dabei.
Wir rennen aufeinander zu, umarmen uns ganz fest und begrüßen uns mit einem leisen »Hey«. Es tut so gut, sie zu sehen und sie in den Armen zu halten. Ich will, dass die Umarmung nicht aufhört, aber sie macht sich los.
Im Prinzip sieht sie aus wie immer, aber ich achte auf die unauffälligeren Veränderungen an ihr. Seit sie weg ist, hat sie zu Hause einen fast mythenhaften Status erreicht, ganz besonders bei Jess. Jess flippt total aus vor Freude, wenn Lizey mal vorbeikommt. Sie holt sämtliche Spielsachen raus, lädt alle ihre Freunde aus der Nachbarschaft ein, damit sie auch Zeugen der glorreichen Rückkehr der großen Schwester werden. Nur Lizey darf sie auf der Schaukel anschubsen und ihr beim Rutschen zusehen und sie backen zusammen in der Küche Kekse. Wenn Lizey nicht da ist, fragt Jess unentwegt nach Lizey – oft, während ich ihr was vorlese oder sonst was Nettes mit ihr mache.
»›Frecher Flecki! Es ist Zeit fürs Abendessen-‹«, las ich gerade vor.
»Kommt Lizey am Wochenende?«
Warum sollte Lizey dieses Wochenende kommen?
»Nein. ›Wo könnte er denn sein? Ist er draußen im Blumenbeet?‹«, las ich weiter.
»Wann kommt sie denn wieder?«
»Ich weiß es nicht, Jess. Aber ich bin hier. Okay? Ich bin hier.«
Und so weiter.
»Das ist Jonno, mein Mitbewohner«, sagt Lizey und dreht sich zu dem Typen um, der sie von hinten umfasst hat. »Er hat ein Auto und wir müssen nicht laufen.«
Jonno tippt sich mit dem imaginären Spazierstock an den imaginären Hut.
»Wieso habt ihr beide die gleichen Klamotten an?«, frage ich, als wir zum Parkplatz hinübergehen. Sie tragen beide Jeans, Chucks und Holzfällerhemden.
»Oh«, sagt Lizey. »Bei Big W gibt’s gerade Holzfällerhemden im Angebot. Es geht nichts über ein Flanellhemd gegen die Kälte in Bathurst.«
»So ist es, Ma’am«, steuert Jonno bei.
Wir quetschen uns in Jonnos zweitürige Subaru-Kiste aus den 80ern.
Unterwegs erzählt mir Lizey, dass sie heute Abend eine Party geben. Ich hatte mir eigentlich vorgestellt, sie für mich zu haben, um mit ihr ausführlich über Mum und Dad zu sprechen und ihr von Chris zu erzählen. Lizey kann gut mit Jungs. Sie ist selten ohne. Aber eine Party ist vielleicht auch gar nicht so schlecht. Eine gute Vorbereitung auf Chris’ Welt.
Jonno parkt den klapprigen Subaru vor ein paar maroden Reihenhäusern.
»Wir sind da.« Lizey springt heraus und schiebt ihren Sitz nach vorn. Ich kämpfe mich mit meinem Rucksack ins Freie.
In der gesamten Häuserzeile befinden sich Studentenquartiere. Lizey führt mich zuerst nach hinten, wo es keine Zäune zwischen den Grundstücken gibt. Es ist eine einzige mit Gras überwucherte Fläche, mit Inseln aus umgedrehten Milchkisten, Wäschespinnen und ein paar vergammelten Grills.
»Wir sind alle eine große Familie«, sie grinst ein paar Leuten zu, die mit Kaffeetassen und Zigaretten auf den Stufen zum benachbarten Hintereingang sitzen. Wir gehen rein. Sie stellt mich ihren Mitbewohnern Guy und Lucy vor, die am Küchentisch sitzen. Sie sind beide im Schlafanzug und Morgenmantel. Vor ihnen stehen leere Frühstücksteller und Kaffeetassen. Sie rauchen genussvoll und aschen in eine leere Keksdose. Dann gehen wir hinauf in Lizeys Zimmer.
Sie war noch nie ordentlich, nicht so wie ich. Das Bett ist nicht gemacht, überall liegen Klamotten rum, einer ihrer alten Sarongs dient als Vorhang.
Ich stelle meinen Rucksack ab und beginne zu zittern. »Es ist eisig hier drin.«
»Da hast du recht«, stimmt mir Lizey zu. »Du kannst ein Flanellhemd und eine Jacke von mir haben.«
»Hey, ist dieser Jonno dein
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