Wunder wie diese
Trainingsanzug und die Socken anzuziehen. Ihre Turnschuhe haben einen Klettverschluss (furchtbar spannend), also lasse ich sie sie alleine anziehen. Mum föhnt sich gerade im Bad die Haare, als ich hinuntergehe.
Ich bin die Erste in der Küche und ziehe die Rollos hoch, sodass die Sonne hereinströmt und der Staub, der gerade von den Holzleisten aufgewirbelt wurde, im Licht schimmert. Ich stelle den Wasserkocher an und stecke zwei Scheiben Soja-Leinsamen-Brot in den Toaster. Ich hole eine Tasse, einen Teebeutel, Teller, Messer, Margarine, Vegemite-Aufstrich, Marmelade und Milch heraus. Auf die eine Toastscheibe streiche ich Vegemite und auf die andere Marmelade. Erst herzhaft, dann süß. Mum mag ihren Tee stark mit einem Schuss Milch und einem viertel bis halben Löffel Zucker. Das kriegt nicht jeder hin.
Ich höre, wie Mum und Jess sich auf dem Weg nach unten streiten.
»Ich will aber fernsehen«, quengelt Jess.
»Nein. Morgens wird nicht ferngesehen.«
»Doch. Fernsehen!«
»Nein. Ich hab Nein gesagt.«
Jess’ ohrenbetäubendes Geschrei wird immer lauter und hört schlagartig auf, als die Musik von der Sesamstraße den Flur hinunterschallt.
Mum taucht geschlagen in der Küche auf. Sie scheppert mit ein paar Töpfen und Pfannen in der Spüle und setzt sich dann an den Tisch zu Tee und Toast.
»Ich komme heute etwas später von der Schule nach Hause«, sagt sie. »Wir haben hinterher noch Personalversammlung.«
Eine von Mums Kolleginnen – und ihre beste Freundin bei der Arbeit – wurde Anfang der Woche von einem Schüler mit einem Messer bedroht. Ich war nach Hause gekommen und habe Mum rauchend im Garten vorgefunden, um vier Uhr nachmittags. Das kommt nur vor, wenn etwas Schlimmes in der Schule vorgefallen ist. Seit Jahren ist immer wieder im Gespräch, die Riley Street Highschool zu schließen, weil es dort so viele Probleme gibt. Wenn wieder etwas passiert – wie die Massenschlägerei mit der Enmore Highschool bei einem Basketball-Turnier letztens –, stellt sich der Sprecher der Oppositionspartei vor die Kamera und sagt: »Die Riley Street Highschool ist eine Schande für Sydney und sollte plattgewalzt werden.«
Er liebt dieses Wort: plattgewalzt. Seiner Meinung nach sollte vieles plattgewalzt werden. Die Wohnanlagen der Aborigines. Die Jugendzentren. Die Drogenkonsumräume. Die meisten der öffentlichen Highschools.
Ein weiterer Morgen, an dem meine mit viel Bedacht ausgewählte herzhaft-süße Toastkombination und mein sorgsam zubereiteter Tee nicht den erhofften Erfolg gebracht haben. Soll heißen, sie haben in keinster Weise auch nur irgendwas an der Verzweiflung meiner Mutter geändert. Es macht gar keinen Unterschied – was immer ich ihr zum Frühstück serviere, es könnten Blaubeer-Ricotta-Pfannkuchen und frisch gebrühter Kaffee sein, sie würde sich immer noch genauso elend fühlen. Ich stehe hilflos in der Küche herum.
»Soll ich die Milch für Jess aufwärmen?«, versuche ich es weiter.
Jess weigert sich zu frühstücken, aber eine Tasse Ovomaltine geht immer. Dazu muss die Milch in einem Topf auf dem Herd erhitzt werden. Ich habe vorgeschlagen, eine Mikrowelle anzuschaffen, um die Milch in gerade mal zwanzig Sekunden zu erwärmen, ganz zu schweigen von den anderen praktischen Einsatzmöglichkeiten, aber das scheint nur ein weiterer Streitpunkt zwischen mir und meinen Eltern zu sein.
»Nein, ich mach das schon«, entgegnet mir Mum. Sie steht auf und knallt den Topf auf die Platte. Mums Verzweiflung bewegt sich meist zwischen den zwei Extremen einer Skala: »traurig« und »still vor sich hinbrütend«. Heute Morgen schwingt das Pendel eindeutig in Richtung »still vor sich hinbrütend«. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zur Schule aufzumachen.
Nach dem Abendessen nehme ich das Telefon mit ins Zimmer, lege es vor mir aufs Bett und starre es ein paar Minuten lang an. Ich habe noch nie bei Chris angerufen, bisher fehlte mir immer der Mut. Aber heute Abend muss ich ihn sprechen. Ich zähle bis drei, dann wähle ich seine Nummer. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen und spüre, wie meine Bauchmuskeln sich verkrampfen.
»Hallo?« Die Stimme einer jungen Frau.
»Hi! Äh, könnte ich bitte Chris sprechen, bitte?« Ein Bitte hätte gereicht.
»Aber sicher. Wer ist denn dran?«
»Amelia Hayes.«
»Einen Moment.«
Nach etlichem Knistern hört man: »Chris, für dich. Eine Amelia Hayes.«
Es klingt, als wäre sie belustigt, so wie sie meinen Namen betont hat.
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