Wunder wie diese
schief. Ich stand genau in seinem Blickfeld, aber es gelang ihm dennoch, durch mich durchzusehen. Ich stellte mir vor, wie komisch es wäre, wenn die Glastheke, auf der er saß, plötzlich zusammenbrechen würde. Denn dann müsste er doch tatsächlich einen Gesichtsausdruck annehmen und er sähe sicher nicht mehr ganz so cool aus.
»Wann geht’s denn los, Kleine?«, fragt mich Chris, als wir am Ende unserer Schicht gemeinsam zum Mitarbeiterausgang gehen.
»Morgen früh. Ich fahre mit dem ersten Zug vom Hauptbahnhof ab.«
»Dann pass gut wegen der Studenten auf. Den meisten kann man nicht über den Weg trauen, vor allem nicht eine hübsche Fünfzehnjährige.«
Hübsch? Ich? Einen Moment mal – er redet doch von mir, oder? Oder war das nur eine ganz allgemeingültige Aussage?
»Ja, ich meine dich«, sagt er, als ob er Gedanken lesen könnte.
Ich senke den Blick und lächle in mich hinein. Wir gehen raus in Richtung Chris’ Bushaltestelle. Ab da trennen sich unsere Wege.
Stille. In meinem Kopf ertönt plötzlich eine fremde, übermächtige »innere Amelia«, die »ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH!« schreit.
»Hey Chris«, sage ich, bemüht, die Stimme in meinem Kopf auszublenden.
»Ja, Tiger?«
»Martha hat Angst vor Virginia Woolf.«
»Wow, das ging aber schnell. Ich bin beeindruckt.«
»Und wahrscheinlich haben die meisten Menschen Angst vor ihr.«
»Wahrscheinlich.«
»Du zum Beispiel.«
»Ich?«
Wir bleiben stehen und sehen uns an. Mutig fahre ich fort. »Na ja, du hältst an dem Geist fest. George und Martha lassen zum Schluss wenigstens ihre Geister ziehen.«
»Welchen Geist meinst du?«
Vorsichtig jetzt.
»Na ja, wie lange hältst du denn schon an Kathys Geist fest? Jeder Trottel kann doch sehen, dass da nichts draus wird.«
»Was hast du gegen Kathy?«, fragt er und zieht eine Augenbraue hoch.
»Nichts!«, sage ich rasch. »Gar nichts. Es ist nur, also, sie ist einfach nicht besonders nett zu dir, oder?«
»Nein.«
»Genauso wenig wie dieses Michaela-Mädel.« Extrem gewagt, Amelia.
Er wirft mir einen durchdringenden Blick zu und ich wechsle schnell das Thema.
»Hat Kathy je erfahren, dass das Gedicht und die Blumen von dir waren?«
»Weiß nicht. Ist egal.«
»Es war ein tolles Gedicht.«
»Es war ein lausiges Gedicht. Aber ich habe mir eh gedacht, dass sie es nicht checkt. Ich bezweifle, dass Textanalyse zu ihren Stärken gehört.«
»Oh.«
Wir sind an der Bushaltestelle angekommen.
»Ich habe gewusst, dass dir Virginia Woolf gefallen würde.«
»Ja… Na ja, also, bis bald dann.«
»Genau. Gute Fahrt und lass die Finger vom Weißwein.«
»Geht klar.« Ich bin schon halb über die Straße, als ich mich noch einmal umdrehe. »Hey, Chris?«
»Qué?«
»Es gibt Mädchen, die richtig, richtig nett zu dir wären, wenn du, na ja, wenn du dich für sie interessieren würdest.«
»Gibt es die? Tatsächlich? Wo denn?« Er sieht die Straße auf und ab und schaut unter der Bank an der Bushaltestelle nach.
Na mach schon!, brüllt die innere Amelia. Sag’s ihm: Eine davon steht gerade vor dir.
Ich zucke die Schultern. Nicht gerade bravourös. Dann drehe ich mich um und gehe nach Hause.
Am Samstag stehe ich um 5 Uhr auf, um mit dem Bus zum Hauptbahnhof zu fahren. Alles schläft noch, als ich aus dem Haus schleiche, mit meinem Billabong-Rucksack und meinem grauen Beanie, den mir Oma gestrickt hat. Es ist ein eiskalter Augustmorgen. Ich kaufe einen Cappuccino, einen Donut mit Schokoglasur, ein Eiersandwich mit Salat und eine Flasche Wasser. Ich habe ein Buch dabei – Die Räuberbraut von Margaret Atwood –, aber die erste Stunde der Zugfahrt verbringe ich damit, aus dem Fenster zu sehen.
Der Zug schlängelt sich durch Sydney nach Westen Richtung Blue Mountains. Wir kommen durch Strathfield, Auburn, Granville, Parramatta, Westmead.
In Blacktown steigt ein junges Mädchen mit einem Kleinkind ein. Ihr Haar ist fettig und ihr Gesicht mit Akne übersät. Sie trägt eine schmutzige Trainingshose aus Polyester. Auf dem linken Wangenknochen hat sie einen Bluterguss. Sie starrt vor sich hin. Der Kleine fängt an, zu schreien und sich auf seinem Sitz zu winden.
»Halt verdammt noch mal die Klappe, Cody!«, zischt ihn das Mädchen an. Sie kramt eine große Packung Twisties aus ihrer Handtasche, öffnet sie und reicht sie dem Kleinen. Er sitzt ruhig da und isst.
Nach Mount Druitt verlaufen die Gleise ein paar Hundert Meter parallel zur Fernstraße. Ich sehe ein großes Schild, das auf die
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