Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott
erkannte Frau Harke, welcher Macht
die Menschen sich anvertraut hatten, und sie zog sich in ihre Höhle im
Frauharkenberg zurück.
Während aber die Unterirdischen im
Dunkel der Erde saßen, vergaßen sie ihren Haß auf den Menschen, der sich über
die Kräfte der Natur erhoben hatte und sie für seine Zwecke nutzbar machte.
Dafür erinnerten sie sich wieder
deutlicher an die Zeit, in der der Mensch noch brüderlich mit ihnen
zusammengelebt und wie sie ihm geholfen hatten, die ersten Waffen zu schmieden
und die nie verlöschende Glut auf seiner Herdstatt zu erhalten. Als er kleine
Schüsselchen mit Milch für die Elliken und Hanselmannken an die Schwelle
stellte und Frau Harke noch die Hüterin der heiligen zwölf Nächte zwischen der
Christnacht und dem Fest der Heiligen Drei Könige war. Und sie begannen sich
nach dem Menschen zu sehnen.
So geschah es, daß Frau Harke wieder in
vielen Gestalten durch die deutschen Lande wanderte, die Mutter aller stummen
Geschöpfe, die zu lohnen und zu strafen weiß. Denn sie hat die Macht, Holzspäne
in Gold zu verwandeln und Gold in Kot und Staub.
Vor dem Hochsitz Frau Harkes
Seit drei Tagen zogen die Leittiere der
freien Rudel aus dem Reiche Frau Harkes zum Frauharkenberg.
Die Hasen flitzten auf ihrer Reise auch
am Tage durch Gräben und Felder. Das Wild aber verließ den sicheren Standort
erst gegen Abend.
Zuletzt von allen machten sich die
Vögel auf den Weg, weil sie am wenigsten Zeit für ihre Reise brauchten. Die
Tiere, die bei den Menschen wohnten, aber hatten die größten Schwierigkeiten zu
überwinden. Sie hatten darum nur ihre Vertreter aus der nächsten Umgebung zum
Frauharkenberg entsandt.
Am Eingang der Höhle stand Frau Harke
selbst, ein riesenhaftes Weib in grauem Gewand, umwallt von blondem Haar, das
wie reifes Korn glänzte. Ein strahlend schönes Gesicht hatte die Frau, ihre
Augen blickten mild und gebieterisch zugleich. Ja, schrecklich schön ist Frau
Harke, die Mutter der Natur und ihres Überflusses!
Am dritten Tage setzt sich Frau Harke
auf ihren Hochsitz am Ende der Halle. Ihr Blick ist streng und ernst. Sie ist
es gewohnt, an den Tagen des Gerichtes harte Klagen zu hören.
Es ist eine dunkle Stunde, und es ist
nicht gut für einen Menschen, zur Zeit des großen Gerichtes vor Frau Harke
hinzutreten! Und doch kommt gerade jetzt ein kleines Menschenkind auf dem Wege
daher, der durch die Ebene zwischen Havel und Elbe zum Berge Frau Harkes führt.
Frau Harke blickt erwartungsvoll über
die unter ihr wogenden Scharen.
»Bedenkt euch wohl, meine Söhne und
Töchter«, sagt sie, »die Stunde ist gekommen, in der ich eure Klagen anhöre!
Sprecht frei und ohne Furcht, meine Kinder!«
Ja, die Zeit ist wahrlich nicht gut
gewählt, daß ein Mensch vor Frau Harkes Thron treten sollte! Und doch kommt die
kleine Dott immer näher.
Noch einmal wendet sich Frau Harke an
die Tiere: »Wer etwas zu sagen hat, der trete vor!« ruft sie gebieterisch.
Da tritt mit gemessenem Schritt ein
Hirsch aus der schweigenden Schar. Es ist Busso, der Wanderhirsch, der größte
der lebenden Hirsche, der in jedem Jahre die weite und gefährliche Fahrt aus
den masurischen Sümpfen hinter Oder und Weichsel bis in die Mark unternimmt, um
dort den Sommer zu verbringen. Er ist so klug, daß die Jäger seine Fährte, die
so groß ist wie die eines Rindes, nur einmal in drei bis vier Jahren entdecken.
Kein Mensch hat ihn jemals gesehen, und wo er steht, weiß niemand. Sein
königliches Geweih ragt einundeinenhalben Meter über seinen Kopf.
»Wir Hirsche und Rehe haben keine Klage
gegen den Menschen«, sagt Busso mit seiner tiefen Stimme. »Die Jagd muß sein,
wir würden stumpf und träge in diesen gepflegten Menschenwäldern, wenn nicht
der ständige Kampf mit dem Menschen wäre. Und seit er den Abschuß der
Muttertiere verboten hat und Krippen mit Futter im Winter einrichtet und Heu-
und Moosbetten gegen die Kälte, haben wir keinen Grund mehr, über den Menschen
zu klagen.«
Sobald Busso wieder in die Schar
zurückgetreten ist, schiebt sich ein mächtiger Elchschaufler vor und schaukelt
leicht auf seinen hohen, schlanken Beinen bis zu den Stufen des Thrones. Er ist
aus der Uckermark gekommen, aus dem großen Tierschutzgebiet im Norden Berlins.
Als er vor Frau Harke steht, hebt er stolz das gewaltige, todbringende
Schaufelgeweih über die hochgewölbte Schulter, saugt die Luft wie in die Ferne
witternd durch die breithängende Oberlippe und blickt aus seinen
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