Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott
versuchte die kleine Dott nur noch einmal, den Elstern zu entkommen.
Dann aber sah sie ein, daß es wenig Sinn hatte, vor einer Elster davonzulaufen.
Denn die Elstern, ob sie töricht oder gescheit sind, haben Flügel und Krallen,
und Dott, das kluge Menschenkind, hatte keine.
Aber die Kleine fragte sich nun, warum
ihre Freunde so gar nichts taten, um sie von ihren Feinden zu befreien. Nicht
einen Augenblick rechnete sie damit, daß Gurian ihr helfen würde, er, der
Leitvogel, der für die jungen Reiher zu sorgen hatte! Aber Cornix — wo blieb
er, der Getreue, der immer in der Not zur Stelle gewesen war!
Die Elstern hatten ihren Flug mit ihrer
Beute fortgesetzt, in steter Angst vor den Verfolgern kreuz und quer durch ganz
Sachsen, von Stadt zu Stadt, und zuletzt durch die Wälder und Täler des
Erzgebirges. Und nachdem sich Pica-Pica von ihren Gefährten im Bösen getrennt
hatte, flog sie mit der Kleinen allein.
Im Elbsandsteingebirge, der Sächsischen
Schweiz am großen Strom, schloß Pica-Pica endlich ihr Abenteuer mit dem
Menschenkind ab — in ihrer eigenen Weise. Hoch oben, auf der Spitze eines
alleinstehenden Felsens, der senkrecht und schmal wie eine aufgestellte Nadel
in den Himmel ragte, fast hundert Meter über der Erde, gab sie der Kleinen die
Freiheit zurück.
»Dies ist das Ende deiner Reise, du
Krähenliebling, du Reiherkleinod, du Juwel, das selbst eine Frau Harke in ihren
Schutz genommen hat. Ha! Dir das Leben nehmen, das darf ich nicht! Dich hacken,
ach, schackerack, brr!, das darf ich nicht! Aber dich hier oben sitzen sehen,
das darf ich. Nun sieh zu, wie du herunterkommst, bevor dich der Habicht holt!«
Mit wilden Flügelschlägen sprang sie
vor der Kleinen hin und her, und plötzlich war sie mit einem Schrei in der
Tiefe verschwunden.
Da saß nun die kleine Dott auf der
Felsenplatte, zerrupft, zerzaust und halb verhungert. Sie wagte es nicht, sich
die natürliche Größe zurückzugeben, denn noch immer konnte Pica-Pica irgendwo
lauern und versuchen, ihr den Becher zu entreißen.
Tief unter ihr lag das herrliche Land
der Sächsischen Schweiz mit den abenteuerlich geformten, wildzerklüfteten
Felsen des Elbsandsteingebirges.
Es war so still, daß es der Kleinen
ganz unheimlich zumute wurde. Tief unten flog ein Vogel wie ein winziger,
schwarzer Punkt, der auf und nieder stieg. »Hallo!« schrie die Kleine zu ihm
hinunter. »Bitte, komm doch herauf zu mir!« Aber ihr Schrei verhallte im
ungeheuren Raum.
Nun richtete sie sich auf und blickte
nach Hilfe suchend in die Höhe. Sofort aber warf sie sich zu Boden und drückte
sich in eine Vertiefung des Felsens. »Der Habicht!« dachte sie. »Pica-Picas Habicht!«
So fest sie nur konnte, preßte sich
Dott in einen Spalt des Felsens, aber längst hatte der Habicht den beweglichen
kleinen Punkt auf dem Felsen entdeckt. Und bevor Dott Zeit hatte, die Schnur
des Beutels aufzureißen, um sich durch den Becher die natürliche Größe
zurückzugeben, schoß er mit zusammengelegten Flügeln schräg von der Seite auf
sie nieder. — Die Kleine schloß die Augen. Unter sich hörte sie die rauhen
Warnungsschreie des Eichelhähers, dann wurde es ganz still.
Und plötzlich ertönte ein Laut, der ihr
Herz schneller schlagen ließ. Es war nur das Krächzen eines Krähenschwarms,
aber sie meinte, daß es auf der ganzen Welt keinen lieblicheren Klang geben
könne!
»Ha! Das war nicht zu früh!« sagte
plötzlich eine knarrende Stimme.
»O Cornix!« schrie die kleine Dott und
sprang auf. Und dann warf sie sich dem Krähenfürsten um den Hals und lachte und
weinte vor Dankbarkeit und vor Freude.
»Hm!« machte Cornix, aber er hielt ganz
still, bis sich die Kleine beruhigt hatte. Dann aber sagte er: »Willst du nicht
einmal nach oben schauen, Dott? Die da oben sind es, die dich gerettet haben!«
Über dem Felsen flatterte mit lautem
Geschrei eine kleine Krähenschar zwischen Dott und dem Habicht. Der aber hatte
sich bereits mitten im Sturz aufgefangen und stieg, ohne den Kampf mit den
Krähen aufzunehmen, in ruhigen Kreisen aufwärts.
Als die Krähen sich auf dem Felsen vor
Cornix niedergelassen hatten, stellte Cornix sie dem Menschenkind vor. Es waren
die kühnsten und erfahrensten aus dem großen Heer der Nebelkrähen bei
Havelberg, deren Fürst der Knese Cornix war.
»Das ist Mutter Kra, die Graue, die
Älteste und Weiseste des Stammes. Du tust gut daran, Dott, ihre Freundschaft zu
gewinnen! Die anderen sind Krage Eisenschnabel, Corvus Hartfuß, Kroa
Weitere Kostenlose Bücher