Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)
langsam über die Pariser Dächer kroch und es nicht richtig hell wurde, war Nikolas bereits wach. Die paar Stunden auf dem Sessel hatten mit der süßen Erholung des Schlafes nichts gemein und selbst eine lange Dusche konnte die Müdigkeit nicht aus seinen Gliedern spülen. Sein untermotorisierter Dienstwagen kroch über die Straßen, auf der sich Menschenmassen so dicht wie Ameisen bewegten. Wenige Autos und Pferdekarren quälten sich durch den Verkehr, kein Wunder, wo Treibstoff rationiert und Pferde für den Kriegseinsatz gebraucht werden. Wenn man die patrouillierenden Wehrmachtssoldaten ausblendete, könnte man meinen, das zivile Leben im pulsierenden Herzen von Frankreich ginge einfach weiter. Obwohl die Menschen lachten und ihrem Tagwerk nachgingen, so gut es ihnen möglich war, lag doch ein nicht fassbarer Schleier über ihnen. Sicher, sie hatten sich mit der Situation abgefunden, mit der von den Deutschen auferlegten Pètain-Regierung wie auch mit den ständigen Personenkontrollen. Doch wenn die Nacht hereinbrach und die dunklen Schatten in ihren mattschwarzen Uniformen ganze Häuserblöcke kontrollierten und Dutzende von Personen festnahmen, verschloss die Bevölkerung lieber die Tür und hoffte, dass niemand donnernd an ihrem Heim klopfte. Sie wussten, dass diejenigen, die abgeholt wurden, niemals wiederkamen. Sie wussten, dass dieses unbeschwerte Leben lediglich der Hauch einer Illusion war, den sie nur allzu dankbar annahmen.
Die schlaftrunkenen Gedanken wischte Nikolas beiseite, als er seinen Wagen auf die breiteste Straße von Paris steuerte, der legendären Avenue Foch. Diese Prunkallee wurde von Napoleon III. in Auftrag gegeben und hatte bereits außerordentliche Geister und Künstler beherbergt. Leider litt ihr Ruf in der Gegenwart, war die Avenue Foch 84 doch das Gebäude, in dem die Geheime Staatspolizei und alle angeschlossenen Behörden ihren Dienstsitz in Paris hatten. Sämtliche Verdächtigen wurden zuerst in diesen Komplex gebracht und dort verhört, was für einige gleichbedeutend mit dem Todesurteil war. Nikolas hatte mit alldem nicht viel zu tun und er war froh darüber. Sein Auftrag war es zu ermitteln, nicht festzunehmen. Er war schon Jahre nicht mehr gezwungen gewesen, die Walther P38 zu benutzen, sodass er kurz überlegen musste, wo er sie hingelegt hatte. Bestimmt war sie irgendwo tief im Nachttisch versteckt. Doch das war jetzt unwichtig.
Schon nach kurzer Zeit baute sich das längliche Gebäude vor ihm auf. Das dunkle, mehrstöckige Bauwerk könnte allein als Häuserblock durchgehen. Die verzierten Balkone gaben den unzähligen Fensterreihen etwas Vertrautes, während der abblätternde Stuck an der Fassade Nikolas eher an ein Gefängnis erinnerte. Nach den üblichen Personenkontrollen parkte er seinen Wagen und fuhr mit dem Paternoster in den dritten Stock. Zu dieser frühen Stunde war noch niemand aus dem Amt V, der Reichskriminalpolizei, zugegen. Sie alle hatten eine lange Nacht gehabt und, abgesehen von der Bereitschaft, die ständig besetzt war, schien bisher niemand den Weg aus dem Bett gefunden zu haben. Er war nicht unglücklich darüber. Schließlich durfte nicht nur die SS eine Menge Fragen an ihn haben. Gedanklich bereitete er sich bereits auf ein Verhör durch Luger vor. Nikolas lehnte sich zurück und ließ die französischen Schuhe auf den Tisch knallen. Auch wenn sein Informant mit der Lokalität recht hatte, war doch irgendwo eine Lücke in diesem sonst so perfekten System der Vernichtung. Opportunistische Franzosen bekamen Geld, oder was immer sie verlangten, für Informationen. Wollten sie nicht kooperieren, änderte man die Methode von einem Belohnungs- in ein Bedrohungssystem. Hatte sich das einmal rumgesprochen, war es ein Leichtes, die gewünschten Informationen zu beschaffen. Nikolas suchte händeringend nach dem Maulwurf in dieser Kette, als das Telefon ihn aus seinen Gedanken riss. Die Uhr zeigte gerade erst 6 an, also musste es wichtig sein.
»Kriminalkommissar Brandenburg«, meldete er sich ordnungsgemäß.
»Hallo, Nikolas.«
Er hatte mit allem gerechnet, doch nicht mit dieser Stimme am anderen Ende. Sofort rutschten seine Beine vom Schreibtisch und er drückte den Hörer des Apparates so dicht an sein Ohr, dass es schmerzte.
»Martin!«, fuhr es aus ihm heraus. Nach den Anstrengungen und Beleidigungen der letzten Wochen tat es gut, eine so vertraute Stimme zu hören. »Wie geht es dir? Alles klar bei euch in Düsseldorf? Was macht das Krankenhaus,
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