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Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)

Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Thiel
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der Menschlichkeit. Er war mitverantwortlich, hatte einen Teil der Schuld auf seine Schultern geladen. Schließlich hatte auch er die braune Uniform der Hitlerjugend getragen. Es wäre zu einfach, jetzt zu sagen, dass er nur ein kleines Rädchen war. Viele Räder machen eine Maschine und diese war todbringender als alles, was die Welt vorher gesehen hatte. Auch wenn es nicht möglich war, diese Schuld zu tilgen, so musste er zumindest einen Beitrag zum Ende des Wahnsinns leisten. Erik hatte es erkannt. Rohn hatte es erkannt. Claire ebenfalls. Es war Zeit, dass auch er sich den Sand aus den Augen rieb.
    Die Müdigkeit übermannte ihn schließlich, sodass er die Überlegungen mit in den Schlaf nahm. Als hätten sie die Barriere der Wirklichkeit überwunden, trafen sie in seinen Träumen auf fruchtbaren Boden.
     
    *
     
    09. November 1938 – Pogromnacht, Düsseldorf
     
    Was für ein matschig-kalter Mittwoch. Es ist spät, mitten in der Nacht. Erik haben wir bereits früh verabschiedet, nur noch die letzten Biere, anlässlich Martins bestandener Klausuren, wollen wir heben.
    »Ne ganze Menge los hier«, poltert mein Freund und zieht seinen Hut so tief ins Gesicht, dass er fast die Ränder der Brille berührt. »Schau dir mal die ganzen Leute an.«
    Seiner Aufforderung folgend, betrachte ich die Menschen, die den Tritonenbrunnen passieren. Die speiende Fontäne des mir persönlich zu martialisch aussehenden, kämpfenden Triton ist im Winter still. Sein Dreizack schwebt drohend über dem ruhigen Wassergraben, während die Menschen im Laufschritt über die Albert-Leo-Schlageter-Allee hetzen. Erst die Nationalsozialisten haben diese Flanierstraße so genannt, nur Erik sagt immer noch Königsallee.
    »Keine Ahnung, wo die alle hinwollen«, kommt es automatisch aus meinem Mund. Die Zahl der Passanten nimmt zu. Überall scheinen dicke Mäntel und rote Köpfe, eingepackt in Mützen, zugegen. Sie strömen aus den Häusern in die bitterkalte Dunkelheit, schlüpfen auf der Schwelle noch in die gefütterten Winterstiefel. Einige tragen unter dem langen Mantel ihr Schlafgewand, das an den Beinen herauslugt. Der Atem der Masse ist gut sichtbar und steigt kurz gen Himmel, ehe er sich auflöst.
    Martin und ich lassen uns von diesem Pulk mittragen, wir werden mitgerissen. Unser Weg führt vorbei an eingeschlagenen Fensterscheiben, an Häuserwänden, auf die ›Juden raus‹ geschmiert wurde und weitere typische Aufrufe der Sturmabteilung. Die Stimmung wird mit jeder Minuten hitziger.
    »Was ist hier los?«, fragt Martin mich mit glänzenden Augen. Die Gedanken, nach Hause zu gehen, sind endgültig vergessen. Wie verweht vom eisigen Wind, der durch die Stadt zieht. Hier wird bald etwas passieren, dessen sind wir uns sicher.
    Ich zucke gespannt mit den Schultern, versuche, Wortfetzen mitzubekommen.
    »Schmeißt die Juden aus unserer Stadt!«, brüllt einer.
    »Vertreibt sie!«, ruft ein anderer. Überall keift und lacht jemand, die Menschen scheinen ausgelassen, wie elektrisiert.
    Augenblicklich wird mir klar, wohin diese stetig wachsende Menge aus Menschen hin will. Zur Kasernenstraße. Dort, wo die große Synagoge steht.
    Ich halte kurz inne, fasse Martin am Ärmel seines teuren Mantels. »Willst du wirklich dorthin?«
    Bevor er die Frage beantworten kann, fällt mein Blick auf den Juwelier, wo Erik den Verlobungsring für Hannah gekauft hat, und ich bin abgelenkt. Die grölende Horde vor seinem Ladenlokal wächst mit jeder Sekunde. Ich war dabei, habe Erik sogar geraten, einen schlichteren zu nehmen. Zu meinem Entsetzen erkenne ich den Mann wieder, der uns den Ring verkauft hat. Ein schlaksiger Greis mit ruhiger Stimme und noch sanfterem Wesen. Sein Geschäft hat er schon lange schließen müssen. Mit Holzbrettern hat er die Front zugenagelt. Lediglich die Wohnung über dem Haus ist ihm noch geblieben. Etliche Wochen und Monate hat er die Fensterscheiben in der ersten Etage erneuern lassen, sie gereinigt und instand gehalten, doch nun bleibt ihm nichts mehr anderes übrig, als sich mit eingefrorener Miene über das zerbrochene Glas zu lehnen und mit anzusehen, wie die Leute Steine gegen sein Anwesen schleudern und in den vormals so feinen Laden stürmen. Eine regelrechte Meute schreit drohend Flüche in den ersten Stock, streckt herausgerissene Bretter in die Luft. Sie rütteln an der Tür, die zur Wohnung des Mannes führt. Die unbekannte Masse trägt Messer, Brecheisen, sogar Äxte blitzen im Schein der Laternen. Ein beklemmendes

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