Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)
Strom. Ich schalte meinen Geist aus und lasse mich von der Gier der Sensationslust durchfluten, während ich weiter getragen werde. Berauscht von der Szenerie. Wir handeln als eine Person, deren freier Wille nicht mehr länger existiert. Die Schlange der Menschen scheint nicht aufzuhalten zu sein. Wie eine Bestie sucht sie sich ihren Weg. Ein lautes, wildes Tier, rasend vor Wut – zu allem fähig.
Vor der großen Synagoge nimmt der Druck ab. Ich kann mich frei bewegen. Einige Meter entfernt steht Martin. Sein Blick geht geradeaus, sein Gesicht feuerrot, seine Gedanken nicht hier, nicht an diesem Ort.
»Martin!« Ich muss ihn heftig am Arm rütteln, ehe ich seine Aufmerksamkeit habe. Er deutet in Richtung des Baus. Erst jetzt fällt mir die Hitze auf, welche sich sengend auf mein Gesicht legt. Es riecht nach Ruß und Benzin, es stinkt bestialisch, weshalb ich meine Hand über den Mund lege. Mehrmals muss ich trocken husten. Meterhoch lodern die Flammen, die hinter den verzierten Fenstern der Synagoge brennen. Die mit Ornamenten geschmückte Fassade glüht orange und der Pulk johlt. Die Bestie schreit und quiekt vor Vergnügen. Manche wagen sich bis ganz nach vorn, werfen Steine gegen die letzten intakten Fenster. Zu meiner rechten bereitet die Brandwehr ihren Einsatz vor, falls sich das Feuer auf die anderen Häuser ausbreiten sollte. Doch noch warten sie, lassen das Gebäude brennen.
Ein Ruck geht durch die Menge. Ein weiterer Schwall aus Menschen strömt auf die Kasernenstraße. Martin und ich stehen nun ganz vorn. Ich werde mitgerissen von der Überschwänglichkeit. Alles scheint sich zu drehen. Nur mit Mühe kann ich mich umsehen. Viele stehen einfach da, die Hände tief in den Taschen, manche klatschen, fast alle schreien etwas. Es zerreißt mir beinahe mein Gehör. Noch ehe ich einen klaren Gedanken fassen kann, drückt mir jemand einen Stein in die Hand. Meine Augen suchen Martin. Er zögert keinen Augenblick, grinst, als er das Geschoss in Richtung der Häuserwand schleudert. Natürlich schlägt es nur wenige Meter vor ihm auf dem Boden auf. Er war immer ein miserabler Werfer. Trotzdem reißt er die Hände nach oben.
Was ist hier los, verdammt? Ich bin Kriminalbeamter. Ich sollte Recht von Unrecht unterscheiden können. Ich sollte wissen, dass dies nicht rechtens ist, dass es falsch ist. Ich sollte …
Doch ich bin die Masse, nicht mehr ich selbst. Angesteckt und infiziert von dem giftigen Speichel des Tieres.
Ein paar Schritte nehme ich Anlauf, den Stein in meiner rechten Hand.
Ich schleudere ihn ja nur gegen die Fassade, niemand kommt zu schaden, versuche ich mir einzureden. Die Anfeuerungsrufe der Umherstehenden nehme ich durch einen Schleier aus Euphorie wahr. Das Blut wird rauschend durch meine Adern gepumpt, als ich aushole.
Dann trifft ein Körper wuchtig meinen Arm. Ich taumle, finde nur mit Mühe mein Gleichgewicht wieder. Als ich mich umdrehe, will ich demjenigen einen Schlag versetzen, doch ich erstarre.
Eriks Augen glühen heißer, als es sich im Siedepunkt des Feuers in der Synagoge anfühlen muss. Sein Kragen ist umgeschlagen, die blonden Haare werden zur Seite geweht, während er Martins Arm hält und mich starr fixiert. »Was glaubt ihr eigentlich, was ihr hier macht?«
Im ersten Moment will ich mich losreißen. Ich höre die Menschenmenge brüllen. Sie beschimpfen ihn, dass er uns gewähren lassen soll. Doch sein Griff ist hart wie aus Eisen, als er uns durch den Pulk der johlenden Menschen zieht. Unerbittlich gräbt er eine Furche durch den lärmenden Mob. Langsam werden die Menschen weniger und ihre Schreie nur noch vom Wind hergetragen. Meine Atmung normalisiert sich. In einer Seitenstraße lässt Erik mich los. Ich sehe ihn an und weiß nicht, was ich sagen soll. Obwohl mein Herz immer noch wild pocht, bin ich wieder ich selbst.
»Ich habe es euch gesagt!«, schreit er laut abwechselnd in meins, dann in Martins Gesicht. »Habe ich wirklich solche Freunde? Die jegliche Ordnung aufgeben, um sich diesen Verbrechern anzuschließen?«
Mein Verstand beginnt allmählich wieder zu arbeiten. Vorbei der Rausch und mit jedem Wort, das Erik uns entgegenbrüllt, verschwindet auch die Euphorie aus meinem Körper.
»Habt ihr gesehen, was in Düsseldorf, ja, wahrscheinlich in ganz Deutschland los ist?«, fährt er unbeirrt fort. Seine Sätze sind schneidend. Ich hatte unendlich viele Wortgefechte mit ihm, doch zum ersten Mal bin ich still. »Sie verhaften die Menschen, sie transportieren
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