Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)
Gefühl beschleicht mich. So muss im Mittelalter die Belagerung einer Burg gewesen sein. Die Panik des Mannes steht ihm ins Gesicht geschrieben. Erst schreit er zurück, doch durch die Rufe der wütenden Menge bleibt seine Stimme ungehört, bis er es schließlich aufgibt und nur noch panisch nach unten starrt. Ich vermag es nicht, mich in den Mann zu versetzen, und wieder muss ich an längst vergangene Zeiten denken. Die Burgherren müssen bei der Erstürmung ihres Heims ähnlich angstvoll auf die johlende Übermacht geblickt haben. Mehrere Schutzpolizisten lehnen an der Wand und betrachten jubelnd das Szenario. Ich gehe auf die Männer zu, sehe mich selbst als handelnde Person, als ich den Ausweis aus der Tasche ziehe und sie frage, was hier los ist.
»Befehl von oben. Die Juden sollten interniert werden«, erklärt mir ein kleiner, dicklicher Polizist kurz angebunden.
Dann rollen die Wagen der Sturmabteilung, des paramilitärischen Flügels der NSDAP, vor. Die SA-Männer in ihren braunen Uniformen mit dem rot hinterlegten Hakenkreuz, welches von ihrem linken Arm prangt. Sie kommen im Dutzend, laut hupt der Mannschaftstransporter. Als sie eintreffen, werden sie mit Beifall begrüßt, als wären sie Heilsbringer. Die hohen Stiefel blitzen, während sie aussteigen und mit roher Entschlossenheit auf die Wohnung des Juweliers zustürmen. Die Schar der Gaffer wird von Minute zu Minute größer. Nur mit Mühe kann ich Martin wiederfinden, der die Hände tief in den Taschen vergraben hat und die Ereignisse gebannt verfolgt.
»Was ist los?«, schreit er mich an.
»Der Befehl zur Internierung ist von Hitler gekommen.«
Er nickt, während sich sein Gesicht tiefer in den Mantel gräbt. »Hat sich ja abgezeichnet.«
Der Mann hat sich zurückgezogen. Er ist nicht mehr am zersplitterten Fenster seiner Wohnung, in das weiterhin Steine fliegen. Die SA-Männer rütteln an der Tür, sie ziehen und poltern mit allen Mitteln, doch erst, als ihnen ein großer Mann mit rundem Hut seine Axt gibt, können sie sich Zutritt verschaffen. Die glatte Schärfe trifft krachend gegen das Holz. Sofort stürmen die Männer in die Wohnung.
»Die können doch nicht einfach …«, höre ich mich noch sagen.
Doch schon wird der Juwelier von mehreren groß gewachsenen Soldaten aus dem Haus gezerrt. Triumphierend, als ob sie auf der Jagd Beute gemacht hätten, wird er vorgeführt. Für wenige Sekunden sieht er auf. Schweigend, leidend, erstarrt vor Todesangst. Dann treffen die Bretter sein Gesicht. Die Männer halten seine Arme auf den Rücken verdreht fest, sodass beinahe jeder Schlag die Stirn des Mannes trifft. Der Kopf wird herumgewirbelt, als wäre er mit dem Körper nur mehr durch wenige Sehnen verbunden. Im fahlen Schein der Lampen sticht das Rot des Blutes heraus. Er wird weiter geschoben und seine Beine geben nach. Sie schleifen ihn weg, während einige noch immer auf ihn einprügeln. Er scheint das Bewusstsein verloren zu haben. Die Stimmung ist kurz vor der Explosion, in wilder Ekstase brüllt die Ansammlung aus Menschen. Sie giftet, spuckt, der Siedepunkt scheint erreicht, als ein älterer SA-Soldat den greisen Mann an den wenigen, weißen Haaren packt und sein Gesicht der Masse präsentiert. Es ähnelt mehr einer blutverschmierten Maske.
Dann werde ich umgestoßen. Die Menschen scheinen außer Kontrolle, sie alle wollen in die Wohnung des Mannes stürmen. Geschrei, Panik, weil sie sich selbst fast erdrücken. Dutzende rennen in die Behausung des Juweliers, ich kann ihre Silhouetten erkennen, die hektisch durch den ersten Stock toben. Sie nehmen sich, was sie tragen können. Haben die Arme voll, als sie wieder auf die Straße treten. Dann zieht mich Martin auf die Beine.
»Wo ist er hin?«, will ich gepresst atmend von meinem Freund wissen.
Unsere Blicke schnellen suchend über die Straße. Dort, wo eben der Greis in den Armen der SA zusammenbrach, zeugt nur noch eine Blutlache von der Grausamkeit.
Im nächsten Moment werden wir weiter geschoben. Überall spüre ich fremde Körper an meinem. Arme in der Bauchgegend, Hüte der kleineren Passanten in meinem Gesicht. Ich könnte dieser Strömung entkommen. Nur ein paar Schritte und es wäre mir möglich, in eine Seitenstraße zu gelangen. Halb meines eigenen Willens geschuldet, halb der Macht, die mich mitreißt, tragen meine Füße mich auf die Kasernenstraße. Zu verlockend ist das, was sich vor meinen Augen abspielt. Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich bin die Masse. Ich bin der
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