Wunderwaffe: Kriminalroman (German Edition)
sie ab wie Vieh! Überall werden sie abgeholt, ihre Besitztümer geplündert. Auf offener Straße werden sie totgeschlagen. Es herrscht Anarchie!«
»Ich habe nur …«, aber meine Stimme versiegt. Erik und ich starren zeitgleich auf den Stein, der immer noch in meiner rechten Hand ruht, den ich so fest halte, dass die Knöchel weiß angelaufen sind. Erschrocken von mir selbst lasse ich ihn fallen. Es scheint ewig zu dauern, bis er auf dem Boden aufschlägt. Das Ausmaß meines Handelns wird mir mit jedem Atemzug bewusster. Ich muss schlucken, angewidert von mir selbst. Beschämt von meiner eigenen Gier und Lust.
»Was wolltest du nur? Mitmachen?«, giftet Erik. Dann kommt er näher an uns beide heran. Seine Stimme ist laut, aber er brüllt nicht mehr. »Es sind viele, die mitmachen, doch nur wenige, deren Geist nicht vergiftet ist.«
Ich blicke zu Martin. Sein Gesicht ist kalkweiß.
Erik zieht die Nase hoch. Ich kann die Trauer erkennen, welche gerade sein Herz durchflutet. »Sodom und Gomorrha!
Und meine besten Freunde spielen des Teufels Lakaien«, wispert er, durch den Wind kaum hörbar. Er wendet sich ab von uns, lässt die Hände mit einem Ruck in die Taschen seines Wintermantels gleiten. »Na dann, geht! Wenn ihr die Schreie hören wollt, wie Leute auf offener Straße von der Meute gehetzt werden, wenn ihr riechen wollt, wie frisches Blut sich auf den Bordsteinen in Lachen sammelt. Geht, wenn ihr dem Unrecht beim Arbeiten zusehen wollt.«
Er klingt beschämt, enttäuscht, verachtend.
Dann macht er die ersten stapfenden Schritte weg von dem Wahnsinn. Sein Mantel weht, als er auf den Boden der Seitenstraße spuckt. Ich wage es nicht, auch nur einen Laut von mir zu geben. Ein letztes Mal bleibt mein Blick auf den lodernden Flammen hängen. Weit recken sie sich in den schwarzen Düsseldorfer Nachthimmel und drohen alles zu verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellt. Das glühende Rot scheint die Passanten anzustrahlen, legt sich fackelnd über ihre Gesichter, die nicht mehr länger aussehen wie jene von Menschen. Ihre Züge ähneln einer Fratze, einer einzigen, breit grinsenden Fratze. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, als wäre diese feiernde Masse, dieser klatschende und brüllende Pulk vom Irrsinn befallen.
Sah ich nicht vor wenigen Minuten noch genau so aus? War ich nicht ein Teil von ihnen? Ein Teil dieses Tieres? Dieser schnaubenden und rasenden Bestie?
Ich schließe die Augen und versuche diese Erinnerung mit aller Macht zu verdrängen. Gleichzeitig machen Martin und ich den ersten Schritt in Eriks Richtung. Weg von dem Feuer, weg von den Menschen.
Dann wird mir bewusst: Auch ich habe mitgemacht.
Kapitel 16
– Schützende Halbwahrheiten –
Nikolas hatte nicht das Gefühl, geschlafen zu haben. Im Haus herrschte angestrengtes Arbeiten. Zwar leise und konzentriert, doch immer wieder von französischen Flüchen unterbrochen, welche halb geschrien, halb gezischt nach oben getragen wurden. Stöhnend stand er auf und rieb sich die brennenden Augen. Als er in den Flur trat, brauchte er einige Zeit, um sich an das Licht zu gewöhnen. Die Petroleumlampen waren voll aufgedreht, sodass die Flammen hoch im Glas flackerten. Nikolas rümpfte die Nase. Der beißende Geruch, der ihn am gestrigen Tage beim Öffnen der Rucksäcke sein Gesicht verziehen ließ, wurde auf der Treppe bereits übertroffen. Die warme Luft stand im Raum, Lüften war durch die vernagelten Bretter unmöglich. Dazu der Gestank von zwei Dutzend Widerständlern, welche sich tagelang nur notdürftig waschen konnten. Die Männer eilten eifrig umher, hingen über Lagepläne gebeugt, schleppten Kisten oder reinigten Waffen. Eine um Stille bedachte Emsigkeit lag über dem alten Holzbetrieb. Claire stand inmitten dieser Soldaten und gab ihnen flink Anweisungen, während sie mit dem Finger hektisch über die Karte fuhr. Dann entdeckte sie ihn. »Dein Essen.«
Die eine Hand nicht von der Karte nehmend, griff sie sich eine Dose Bohnen und warf sie Nikolas geschickt zu. Danach folgte ein Öffner, den er gerade noch fangen konnte.
Es schien, als wollte sie erst lächeln, als sie seine Anwesenheit bemerkte, verbat sich dies aber in letzter Sekunde. Ein merkwürdiger Gesichtsausdruck. Anscheinend war sich Claire darüber bewusst und blickte schnell wieder auf die Karte. Augenringe zeichneten sich deutlich in ihrem Gesicht ab. Die vormals glatten Haare waren zerzaust und wirkten matt. Auch sie schien keinen ruhigen Schlaf
Weitere Kostenlose Bücher